Für Luise* war stets klar, dass sie Kinder haben will. Malte sie sich ihr künftiges Familienleben aus, war da immer eine Tochter. Beim ersten Kind, einem Jungen, spielte das Geschlecht keine Rolle für sie. Luise wusste: Sie will sowieso zwei Kinder. Als sie den zweiten Sohn gebar, sei für sie hingegen eine Welt zusammengebrochen. «Die ganze Vorstellung, wie mein Leben sein wird, wurde durchkreuzt. Die Trauer und depressive Stimmungen waren so stark, dass ich mich nicht auf das Baby in meinem Bauch freuen konnte.» Schuld und Scham kamen hinzu.
Was macht das mit dem Ungeborenen? Die Frage trieb Luise um. Wegwischen konnte sie ihre Gefühle jedoch nicht. Sie blieben - auch in ihrer Schwere. In ihrer Schwangerschaft ging sie offen mit ihrer Enttäuschung um, sprach mit ihrem Partner und Freunden darüber. Sie erntete vereinzelt zwar Unverständnis, stellte aber auch fest: Mit ihren Gefühlen ist sie nicht allein. Das zeigt auch ein Blick in die entsprechenden Online-Foren. In den Beiträgen ist die Rede von kurzer Niedergeschlagenheit, andere schildern eine monatelange Trauer bis Depression.
«Gender Disappointment» heisst der Fachbegriff, wenn Eltern über das Geschlecht ihres Kindes enttäuscht sind. Wie häufig dieses Phänomen vorkommt, ist unklar. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Das Phänomen offenbart allerdings, wie stark stereotype Geschlechterbilder in unserer Gesellschaft verankert sind. Daran ändern auch die Diskussionen um ein drittes Geschlecht nichts. Wer einen Sohn erwartet, dem wird bereits vor der Geburt künftiges Fussballspielen prophezeit, bei den Mädchen der Einzug von Prinzessin Lilifee.
Luise suchte professionelle Hilfe, da sie Gender Disappointment als kleinere Depression erlebte, wie sie sagt. Bei der Psychologin bekam sie eine Erklärung: «Ich habe Mühe mit dem Kontrollverlust. Mein Leben habe ich voll im Griff, bin super organisiert. Deswegen macht es mir derart zu schaffen, wenn ich etwas nicht kontrollieren kann.» Luise sieht in ihrer Herkunftsfamilie einen weiteren Grund. Sie wuchs mit ihren beiden Brüdern ohne Vater bei der Mutter auf. Sie schaut zu ihr auf, ebenso zu ihrer Oma und Uroma. «Die Frauen in meiner Familie waren unglaublich stark und klug. Das hat mich geprägt», sagt sie. Zur Mutter hat Luise bis heute ein enges Vertrauensverhältnis. Das wünscht sie sich auch - mit der eigenen Tochter.
Doch das dritte Kind wurde wieder ein Sohn. Erneut überschwemmte Luise die Enttäuschung. Im Gespräch ist ihr wichtig: «Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe meine drei Söhne über alles. Sie sind bezaubernd. Aber eine Tochter zu haben, ist ein Lebenswunsch. Wenn ich den nicht angehe, bereue ich es mein ganzes Leben.» Beim vierten Kind will sie deshalb nichts mehr dem Zufall überlassen.
In der Schweiz und in der EU ist die vorgeburtliche Geschlechtsselektion mittels In-Vitro-Fertilisation (IVF) nicht erlaubt. Einzige Ausnahme: Wenn eine schwere Krankheit vererbt werden könnte, die geschlechtsgebunden ist. Anders in gewissen Bundesstaaten der USA oder in Nordzypern. Dort müssen keine medizinischen Gründe geltend gemacht werden. Die werdenden Eltern können, wenn sie wollen, das Geschlecht bei einer künstlichen Befruchtung bestimmen.
Wie viele es sind, die diesen Schritt machen, ist unbekannt. Doch Nathalie Wiederkehr weiss: «Das Interesse daran ist riesig. Aufgrund der Nähe reisen Schweizer Paare besonders nach Nordzypern, da es für den Geschlechtswunsch die preiswerteste Option mit erstklassigen Kliniken ist.» Die Bernerin berät Paare oder alleinstehende Frauen, die eine dortige Kinderwunschklinik in Betracht ziehen. Nordzypern sei weltweit für diese Behandlung bekannt, selbst aus Australien würden Paare anreisen, sagt Wiederkehr.
Der deutsche Gynäkologe Markus Nitzschke ist Belegarzt an einer IVF-Klinik in Nordzypern. Er sagt: «Anders als in der EU müssen nordzypriotische Kliniken nirgendwo Behandlungen erfassen und die Informationen einer zentralen Stelle übermitteln.» Dies, weil der nördliche Teil der Insel Zypern von der Türkei besetzt ist und somit – anders als der südliche Teil – nicht zur EU gehört.
Zu den wichtigsten wirtschaftlichen Standbeinen Nordzyperns gehört die IVF-Industrie. Die meisten der Kliniken würden vorwiegend türkische Patientinnen behandeln. «Die Türkei ist eines der striktesten Länder bezüglich Reproduktionsmedizin. In Nordzypern wird diese hingegen toleriert. Das wirkt wie ein Ventil, wodurch die Regierung innenpolitisch keinem Druck ausgesetzt ist, die eigenen Gesetze zu lockern», erklärt Nitzschke.
Für Nordzypern ist das aber eine Gratwanderung. Ein Skandal könnte verheerende Folgen haben. Werbung für die Kliniken sei seitens der Türkei ebenfalls nicht gerne gesehen, sagt der Gynäkologe. Die Geschlechtswahl ist zwar in Nordzypern nicht verboten, aber im Graubereich angesiedelt. Das zeigt sich beim Ablauf.
Die Labore würden die Zellen der Embryos untersuchen, wie dies auch bei den chromosomalen Tests in Europa der Fall ist, sagt Nitzschke. Die Ergebnisse bezüglich des gesundheitlichen Zustands der Embryonen schicken sie dann mit Logo und Briefkopf – also ganz offiziell – an die Kliniken.
Gleichzeitig erhalten diese eine inoffizielle E-Mail, in der das Geschlecht der Embryonen mitgeteilt wird, sagt Nitzschke. Liegen beispielsweise sechs gesunde weibliche Embryonen vor, müssen diese auf Nordzypern nicht transferiert werden, wenn sich die werdenden Eltern einen Sohn wünschen. «Es werden Nischen offengelassen, um den Reproduktionstourismus möglich zu machen», sagt er.
Davon profitiert auch Nitzschke. Anders als in den meisten IVF-Kliniken auf Nordzypern kommen seine Patientinnen zur Hälfte aus Europa. Viele davon unterziehen sich einer künstlichen Befruchtung einzig wegen der vorgeburtlichen Geschlechtsselektion. «Das sind meistens Paare, die schon zwei oder drei Kinder eines Geschlechts haben und nicht einen weiteren Jungen oder ein weiteres Mädchen wollen. Wir nennen das Gender Balancing», sagt er.
Das bestätigt Selin*. Sie arbeitet als eine von zahlreichen Patientenkoordinatorin auf Nordzypern. Sie hilft bei der Planung, übersetzt und ist erste Ansprechperson für die Paare. Viele, die sie begleitet hat, kommen aus der Schweiz, sagt sie. Pro Monat betreut sie etwa zehn Patientinnen, die sich einzig wegen der Geschlechtsselektion für Nordzypern entscheiden.
«Wer aus der Schweiz anreist, bevorzugt ein Mädchen. Oft ist es für das Paar das dritte oder vierte Kind. Oder es ist eine Single Mum, die sich nur eine Tochter vorstellen kann», sagt Selin. Der soziokulturelle Hintergrund spielt hierbei eine zentrale Rolle. Während Eltern aus dem deutschsprachigen Raum sich vor allem eine Tochter wünschen, möchten jene aus dem Balkan oder der Türkei Jungs. Das Wunschgeschlecht lassen sich die werdenden Eltern einiges kosten. Mit rund 10'000 Euro müsse man rechnen, inklusive Reise und Medikamente, sagt Selin.
Bei Linda* war es mit 50'000 Euro ein Vielfaches mehr. Die ersten drei Versuche führten zu keiner Schwangerschaft. Doch nun hat die Mutter von zwei Buben soeben ihr drittes Kind bekommen. Ein Mädchen. Überglücklich sei sie, sagt Linda, ihre Söhne rührend stolz. Um dies möglich zu machen, ist Linda zweimal nach Zypern und zweimal in die USA geflogen. Ihre Söhne wurden spontan gezeugt, ihre Tochter hat hingegen ein Embryologe in einem Labor zwischen verschiedenen Embryonen ausfindig gemacht.
Beim ersten und zweiten Kind war es Linda egal, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommt. «Ich bin total glücklich mit meinen beiden Buben», sagt Linda. Doch in der Baby- und Kleinkindphase des zweiten Sohns tauchte plötzlich eine Sehnsucht auf. Die Sehnsucht nach einer Tochter. «Ich stellte plötzlich einen Neid auf Mütter fest, die ein Mädchen hatten. Zuerst dachte ich, das würde sich wieder legen, aber der Wunsch kam immer wieder sehr stark in mir auf», sagt Linda. Wenn sie über ihre Zukunft nachdachte, sah sie sich stets mit zwei Jungs und einem Mädchen.
Ihr Mann konnte sich ebenfalls ein drittes Kind vorstellen. Also begann Linda zu googeln. Sie las von Kliniken, die mittels künstlicher Befruchtung die Geschlechtswahl ermöglichen. Und sie vertraute sich ihrem Mann an. «Das hat mich eine gewisse Überwindung gekostet. Zu meiner Erleichterung schloss er diesen Weg nicht aus», sagt Linda. Es dauerte ein Jahr, bis sich das Paar entschloss, den Schritt tatsächlich zu wagen.
Die Klinik auf Nordzypern fand Linda durch eine Internetrecherche. «Es ist schwierig, an seriöse Informationen zu kommen. Am Anfang klang alles gut. Vor Ort stellte ich aber rasch fest, dass das Geld stimmen muss und nicht die Behandlung. Es war alles sehr intransparent», sagt Linda. Die ersten beiden Versuche klappten nicht, weil kein passender Embryo vorlag. Und als beim dritten Mal zwar ein gesunder, weiblicher Embryo da war, setzten die Ärzte diesen ein, obwohl Lindas Gebärmutterschleimhaut nicht richtig aufgebaut war. So müsse sie die Flüge nicht umbuchen, lautete die Begründung.
Das Resultat: Es kam zu keiner Schwangerschaft, der Embryo nistete sich nicht ein. Dazu sagt Patientenkoordinatorin Selin: «Es gibt zwischen den Kliniken grosse Qualitätsunterschiede. Etwa fünf sind richtig gut, fünf sind mittelmässig und fünf nicht empfehlenswert. Bei Letzteren geht es nur ums Geld», sagt sie. Kliniken, die Versprechungen oder gar Garantien abgäben, seien ebenso wenig ernst zu nehmen wie jene mit Dumpingpreisen.
Auch Kinderwunschcoach Nathalie Wiederkehr empfiehlt, sich intensiv mit den Kliniken im Vorfeld auseinanderzusetzen. Doch: «Das Thema ist stark tabuisiert. Viele Interessierte wenden sich nur anonym an mich. Entsprechend findet kaum ein persönlicher Austausch über die gemachten Erfahrungen statt. Oft weiss nicht mal die eigene Familie davon», sagt Wiederkehr.
Linda hat sich bloss drei Menschen anvertraut. Bis heute fällt es ihr schwer, gewisse Dinge auszusprechen. Etwa, dass sie sich über einen dritten Jungen nicht freuen könnte. Sie hat sich viele Gedanken gemacht und sich Fragen gestellt wie: Wann beginnt Leben? Wie weit darf man gehen, um Schicksal zu spielen? «Natürlich kenne ich die Kritik: Man solle der Natur nicht reinpfuschen, und das Wichtigste sei sowieso, dass das Kind gesund ist», sagt Linda. Letzterem stimme auch sie zu. Aber da ist noch mehr.
Bis heute fände sie das Thema schwierig. «Schliesslich kam ich aber zum Schluss: Klappt alles, schenke ich einem Menschen das Leben. Das hat mich versöhnt», sagt sie. Nachdem es auf Nordzypern nicht geklappt hatte, schlug ihr Mann vor, es auf natürlichem Weg zu probieren. Bei diesem Gespräch merkte Linda: Entweder ein Mädchen - oder kein weiteres Kind.
Doch was, wenn die Tochter nicht den Erwartungen entspricht? Wenn sie sich die Haare kurz schneidet, an keinem Bagger vorbeigehen kann und sich am Vater orientiert? «Dann wäre das auch in Ordnung», sagt Linda. Zwar hoffe sie, mädchentypische Dinge mitzuerleben, aber das mache bloss einen kleinen Teil des Wunsches aus.
Aber was verspricht sie sich dann davon, ein Mädchen grosszuziehen? «Ich wünsche mir, das eigene Geschlecht aufwachsen zu sehen. Vielleicht, weil ich mich darin etwas mehr erkenne oder die Vorstellung habe, mit dem gleichgeschlechtlichen Kind eine andere Beziehung zu führen. Nicht unbedingt eine tiefere als zu meinen Söhnen, aber eine andere», sagt sie.
Susanne Brauer ist Ethikerin und hat die Empfehlungen zu den präimplantativen genetischen Testverfahren von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) mit ausgearbeitet. Was sagt sie zu der vorgeburtlichen Geschlechtsselektion in der Ferne? «Es steht den Paaren frei, dafür ins Ausland zu reisen. Ein Verbot wäre nicht zielführend. Aber es gibt gute Gründe, die Geschlechtswahl in der Schweiz nicht zu ermöglichen», sagt sie.
Die Präimplantationsdiagnostik stosse ein Tor auf, um zu bestimmen, mit welchen genetischen Merkmalen ein künftiger Mensch ausgestattet ist. Das könne sehr schnell in einer diskriminierenden Selektion münden. «Selbst bei schweren Erbkrankheiten gibt es strenge Auflagen. Die Überlegung dahinter ist, dass kein Mensch aufgrund seiner Beeinträchtigung oder Krankheit diskriminiert werden soll», sagt Brauer.
Daneben gebe es im Gesetz jedoch auch noch den Passus der Zumutbarkeit für die Eltern. «Wer sich nicht in der Lage sieht, ein schwer krankes oder schwer beeinträchtigtes Kind aufzuziehen, kann seine persönlichen Umstände geltend machen und somit auf eine Übertragung dieser Embryonen in die Gebärmutter verzichten», sagt Brauer.
Auch in der Schweiz werden bei einer künstlichen Befruchtung die Chromosomen untersucht, um jenes Embryo zu transferieren, das die beste Qualität aufweist. Dabei entsteht die sogenannte Überschussinformation des Geschlechts. Diese darf aber nicht weitergegeben werden und in den Selektionsentscheid einfliessen. Diese Haltung unterstützt neben der SAMW auch die Nationale Ethikkommission. Brauer verweist auf die Gleichheit der Geschlechter. «Wir wollen diese Gleichheit. Darin wurzelt ebenfalls die Gesetzeslage hinsichtlich der verbotenen Geschlechtswahl. Es drückt unsere Werte aus.»
Es sei einem Paar grundsätzlich zumutbar, ein Kind unabhängig vom Geschlecht grosszuziehen, sagt die Ethikerin. «Ein Mensch steht für sich und soll nicht zu einem Produkt werden. Ein Kind hat somit ein Recht auf eine eigene Zukunft. Dazu gehört die Lotterie des Geschlechts», sagt Brauer. Die Bestimmbarkeit über das Leben der eigenen Kinder sei sowieso eine Illusion und müsse von Beginn an losgelassen werden.
Für den Gynäkologen Markus Nitzschke ist die Geschlechtswahl aus ethischer Sicht unproblematisch. «Es geht um die Auswahl von etwas, das bereits vorhanden ist. Alles Weitere, wie die Manipulation der Gene, ist für mich ganz klar die rote Linie», sagt er. Er verweist darauf, dass bei Erbkrankheiten die Selektion zugelassen ist. «Da herrscht gesellschaftlicher Konsens. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Gender Disappointment existiert, da gibt es einen Leidensdruck. Wir helfen diesen Menschen, ohne jemandem dadurch zu schaden», sagt Nitzschke.
Bei Linda hat es nicht sofort geklappt. Die gescheiterten Versuche seien sehr belastend gewesen, sagt Linda. Aber am schlimmsten fand sie die Wochen zwischen Transfer und dem ersten Schwangerschaftstest. Was, wenn es nicht klappt? «Der organisatorische, finanzielle, aber auch emotionale Stress ist riesig. Damit hatte ich nicht gerechnet und wurde regelrecht überrollt davon», sagt Linda.
Ein weiteres Mal wollte sie ihr Glück versuchen - und reiste dafür in die USA. Dort lebt ihre Schwester. «Der Vorteil ist, dass es dort mehr Informationen gibt und dadurch die Wahrscheinlichkeit grösser ist, an eine gute Klinik zu gelangen. Der Nachteil: Es ist deutlich teurer und zeitaufwendiger», sagt Linda. Zweimal flog sie in die USA. Einmal für die Stimulation und die Entnahme, ein weiteres Mal, um den Embryo einzusetzen. Linda bereut nichts: Heute wiegt sie ihre Tochter auf dem Arm.
Luise ist noch nicht so weit. Sie will ihr Glück auf Nordzypern versuchen. Sie steht bereits mit zwei Kliniken in Kontakt. Doch vorerst muss sie ihren dritten Sohn abstillen.
*Namen geändert (aargauerzeitung.ch)
Ich empfehle solchen Menschen ein paar Barbies für zuhause und eine wöchentliche Sitzung bei einer fähigen Fachperson.
Jetzt warten wir nochmal 10-20 Jahre und dann kaufen Eltern beim Gentechniker ihr nach Wunsch zusammengepuzzeltes Kind.