Die Schweiz vertritt in Georgien die Interessen Russlands – das wird immer anspruchsvoller
Viel wird dieser Tage gestritten über die Schweizer Neutralität. Worin diese genau besteht und wie sie in der Praxis angewandt werden sollte, ist höchst umstritten - und vom politischen Standpunkt abhängig. Das zeigt sich etwa in der Frage, ob und wenn ja welche Sanktionen die Schweiz angesichts der Invasion in der Ukraine gegenüber Russland ergreifen soll.
Einigkeit hingegen scheint in einem anderen Punkt zu bestehen: Auch in Zukunft soll die Schweiz als neutrales Land mit Hilfe ihrer «Guten Dienste» weltweit zur Konfliktbeilegung beitragen. Ein Herzstück dieser «Guten Dienste» sind die Schutzmachtmandate der Eidgenossenschaft. Damit ist die Interessenwahrung für fremde Staaten in einem Drittland durch die Schweiz gemeint.
Wenn zwei Staaten ihre Beziehungen ganz oder teilweise abbrechen, so können sie dank der Schutzmacht minimale Beziehungen aufrechterhalten. Das jahrzehntelang bekannteste Schutzmachtmandat der Schweiz war die Vertretung der Interessen der USA auf Kuba. Mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten endete es 2015 nach 54 Jahren. Aktuell unterhält die Schweiz noch sieben Schutzmachtmandate. Unter anderem vertritt sie seit 2009 die Interessen Russlands in Georgien und umgekehrt die Interessen Georgiens in Russland.
Moskaus Ärger über Ignazio Cassis
Doch dieses Schutzmachtmandat findet in einem zunehmend spannungsgeladenen Kontext statt. Einerseits haben sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und der russischen Regierung seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine vor sieben Wochen verschlechtert. Mehrfach hat das Aussendepartement EDA den russischen Botschafter in Bern zitiert, zuletzt am vergangenen Donnerstag als Reaktion auf den Raketenangriff auf flüchtende Zivilisten am Bahnhof von Kramatorsk.
Russland seinerseits hatte die Schweiz aufgrund ihrer Sanktionen am 7. März auf eine Liste mit Staaten aufgenommen, die es als «unfreundlich gegenüber der Russischen Föderation, ihren Unternehmen und ihrer Bevölkerung» betrachtet. Und am letzten Dienstag kritisierte Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Aussenministers, Aussagen von Bundespräsident Ignazio Cassis aufs Schärfste. In einem Statement, welches Russlands Botschaft in Bern auf Twitter verbreitete, warf Sacharowa Cassis «völlig inakzeptable Vergesslichkeit und willkürliche Interpretation historischer Fakten wegen politischer Zweckmässigkeit» vor.
Kommentar der Sprecherin des 🇷🇺Aussenministeriums Maria Sacharowa zu den Äusserungen der Staatsführung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 🇨🇭zu den Ereignissen in der Ukraine pic.twitter.com/Kdz0Wjjrkg
— Russian Embassy Bern (@RusEmbSwiss) April 12, 2022
Doch nicht nur das Verhältnis zwischen Russland und der Schutzmacht der Schweiz ist belastet. Auch zwischen Georgien und Russland könnte es zunehmend zu Spannungen kommen. Grund dafür ist die Region Südossetien. Dieses Territorium liegt zwar auf dem Staatsgebiet Georgiens, keine 30 Kilometer von der Stadtgrenze der Hauptstadt Tiflis entfernt.
Doch de facto wird es seit dem Ende des Kaukasuskriegs 2008 von Moskau kontrolliert. Russland hat mehrere tausend Armeeangehörige in Südossetien stationiert und überweist der dortigen Regierung grosszügige Finanzhilfen. Als eines der wenigen Länder weltweit anerkennt Russland Südossetien als unabhängigen Staat.
Zurzeit sorgen Pläne des amtierenden Präsidenten Südossetiens, Anatoli Bibilow, für Unruhe. Er hat sich gemeinsam mit anderen Politikern für ein Referendum für einen Anschluss Südossetiens an Russland ausgesprochen. Die Gruppe hat eine entsprechende Petition bei der zentralen Wahlkommission eingereicht. Georgiens Aussenminister bezeichnete das Abhalten eines solchen Referendums auf dem Staatsgebiet des Landes als «inakzeptabel».
Noch zögert der Kreml
Noch sei unklar, wie weit das Vorhaben gedeihen werde, sagt Daria Isachenko von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Der Plan habe einerseits eine innenpolitische Komponente. Amtsinhaber Bibilow wolle damit im aktuellen Wahlkampf um das Präsidentenamt Stimmen gewinnen.
Andererseits habe dieses Vorhaben im komplett von Russland abhängigen Südossetien natürlich auch eine aussenpolitische Komponente. Gemäss Isachenko hat ein Anschluss Südossetiens an Russland bereits Fürsprecher unter den Abgeordneten der Duma, des russischen Parlaments, gefunden. Es seien auch schon russische Berater in Südossetien, die sich mit der Vorbereitung des Referendums beschäftigten.
Aus der Vergangenheit kenne man diese Vorgehensweise, beispielsweise von den «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk im ostukrainischen Donbass: «Solche Initiativen für die Anerkennung von Gebieten in Nachbarstaaten erhalten erst den Rückhalt von ?patriotischen? Kräften in der Duma, bevor sich der Kreml ebenfalls offiziell dahinter stellt.»
Noch habe sich Russlands Führung nicht entschieden, ob er dem Vorhaben seine offizielle Unterstützung leihen will. In anderen Fällen, etwa in der ebenfalls offiziell zu Georgien gehörigen, abtrünnigen Region Abchasien, habe sie solchen Bestrebungen einen Riegel geschoben. «Es ist fraglich, ob der Kreml neben dem Ukraine-Krieg eine ?zweite Front? im Südkaukasus eröffnen will.»
«Als Vermittlerin kommt die Schweiz aktuell nicht in Frage»
Daran zweifelt auch Professor Nicolas Hayoz, Direktor des Osteuropa-Instituts an der Universität Fribourg. Eine Eskalation der Situation sei derzeit eher nicht in Moskaus Interesse. Nach dem Krieg 2008 haben Russland und Georgien zu einem Modus Vivendi gefunden, der für beide erhaltenswert sei.
Dieses Bedürfnis nach Stabilität erkläre auch die auffallend zurückhaltende Reaktion der georgischen Regierung auf den russischen Angriff auf die Ukraine. «Das ist insbesondere erstaunlich, weil sich die Ukrainer und die Georgier seit den ?farbigen Revolutionen? gegen die prorussischen Führungen in ihren Ländern 2003 beziehungsweise 2004 als Brudervölker betrachten und sehr nahestehen», so Politikwissenschafter Hayoz.
«In dieser komplexen Lage zwischen den beiden Staaten ist das Schutzmachtmandat der Schweiz umso wichtiger», sagt Botschafter Thomas Greminger. Der Schweizer Spitzendiplomat und frühere OSZE-Generalsekretär leitet heute das Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). Gerade in Zeiten wachsender Spannungen brauche es eine zuverlässige Schutzmacht, welche die Kommunikationskanäle zwischen den Regierungen offenhalte. Das getrübte Verhältnis zwischen der Schweiz und Russland dürfe man vor diesem Hintergrund nicht überbewerten, da der Schweiz als Schutzmacht eher eine Art «Briefträgerfunktion» ohne politische Implikationen zukomme.
Auch Kaukasus-Experte Nicolas Hayoz glaubt, dass die Schweiz ihre Routineaufgaben - etwa im konsularischen Bereich oder der Übermittlung von Nachrichten zwischen den Regierungen - im Rahmen des Schutzmachtmandats weiterhin wahrnehmen könne. Darüber hinaus schränkten die angespannten Beziehungen zu Moskau die Möglichkeiten der Schweiz wohl dennoch ein: «Als Vermittlerin für weitreichendere Aufgaben, etwa bei einer Lösung der Südossetien-Frage, kommt die Schweiz aktuell sicher nicht in Frage.»
Das Aussendepartement EDA geht auf Anfrage nicht auf mögliche Auswirkungen des angespannten Verhältnisses zwischen Bern und Moskau ein. Es teilt lediglich mit, dass die gegenseitigen Schutzmachtmandate für Georgien und Russland weitergeführt würden. «Mit ihrer Übernahme ist die Schweiz gegenüber den beiden Staaten Verpflichtungen eingegangen, die sie nach Treu und Glauben erfüllt». Es handle sich für die beiden Staaten um wichtige Dienstleistungen. «Aus Vertraulichkeitsgründen äussert sich das EDA nicht zu Inhalten und Details von Schutzmachtmandaten», heisst es weiter.
(saw/aargauerzeitung.ch)
