Noch ist nicht klar, wer Charlie Kirk erschossen hat, das FBI fahndet nach dem Täter. In der Berichterstattung über das Attentat werden unter anderem Polarisierung und politische Gräben für die Tat verantwortlich gemacht. Finden Sie diese Deutung schlüssig?
Dirk Baier: Polarisierung bedeutet erst einmal nur, dass es eine Spaltung der Gesellschaft gibt. Das heisst aber noch nicht, dass die Haltung verbreitet ist, dass alle, die anderer Meinung sind, getötet werden sollten. Die Gründe dafür, dass es zu dieser schwersten Form der Gewalt kommt, sind vielschichtig. Es wäre viel zu einfach, Polarisierung allein für diese Tat verantwortlich zu machen. Gleichzeitig muss man sagen, dass das politische Klima in den USA enorm aufgeheizt ist.
Wann schlägt Polarisierung in politische Gewalt um?
Wenn eine aggressive Rhetorik Feindbilder konstruiert und gewisse Gruppen wiederholt für Probleme verantwortlich gemacht werden, wird diesen nach und nach ihre Menschlichkeit abgesprochen. Das ist ein Katalysator für Gewaltverhalten. Dass Menschen aber tatsächlich Gewalttaten begehen, müssen zusätzlich dazu auch immer noch persönliche Merkmale hinzukommen wie Persönlichkeitsproblematiken, niedrige Selbstkontrolle oder Empathielosigkeit. Narrative allein bringen noch niemanden um. Wir wissen zum Beispiel, dass es öfter zu Gewaltausübungen kommt, wenn sich Menschen in Gruppen gegenseitig anstacheln.
Welche Risikofaktoren begünstigen politische Gewalt?
So simpel es klingen mag: Es muss eine Gewaltaffinität vorhanden sein. Menschen, die eine positive Einstellung gegenüber Gewalt haben und denken, dass sie damit Probleme lösen können, üben diese eher aus. Die nächste Frage ist, woher diese Gewaltaffinität kommt. Hier spielt die Erziehung eine grosse Rolle, aber auch angeborene Merkmale sowie das nähere soziale Umfeld und allenfalls die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der Gewalt verherrlicht wird. Schlussendlich ist es ein Zusammenspiel aus gesellschaftlichen Diskursen, dem sozialen Umfeld und individuellen Faktoren, die politische Gewalt begünstigen.
Kommt politische Gewalt in polarisierten Gesellschaften häufiger vor?
Mir ist dazu keine Forschung bekannt. Was wir aber wissen, ist, dass sozial ungleiche Gesellschaften anfälliger für Gewaltkriminalität sind. Soziale Ungleichheit ist ein Treiber von Gewalt. Sie erzeugt Verliererinnen und Verlierer, und diese sind eher bereit, extreme Ideologien zu übernehmen und diese in die Tat umzusetzen.
Nach dem Attentat gegen Kirk machte US-Präsident Donald Trump die Rhetorik der «radikalen Linken» für die Stimmung verantwortlich, die zu einer solchen Tat geführt habe.
Er macht nicht nur die Rhetorik der Linken, sondern die Linken selbst dafür verantwortlich. Das ist nochmals eine andere Dimension. Seine Aufgabe als politischer Führer wäre es, zur Mässigung aufzurufen. Das hat er aber nicht getan, er hat stattdessen ein klares Feindbild identifiziert. Trumps Anhänger gehen sogar noch weiter und sprechen nun von Krieg.
Inwiefern tragen Trump und seine MAGA-Bewegung zu einem Klima bei, das weitere politische Gewalt begünstigt?
Ich würde nicht sagen, dass Trump und seine Bewegung schuld daran sind, wenn es zu politischer Gewalt kommt. Auch in einem anderen Kontext können Politikerinnen und Politiker Ziel von Angriffen werden. Was man aber sagen kann, ist, dass Donald Trump eine Rhetorik von Feindbildern nutzt, die am Anfang einer Radikalisierung stehen kann.
Neben den hasserfüllten Reaktionen gibt es auch die von Politikerinnen und Politikern, die sich über ideologische Gräben hinweg schockiert über das Attentat gezeigt haben. Könnte die aktuelle Diskussion über politische Gewalt und Polarisierung in den USA auch eine einende Wirkung haben?
Ich sehe nicht, wie diese Tragödie zu einer Beruhigung beitragen könnte. Ich sehe nur, dass sie instrumentalisiert wird, um weiter zu mobilisieren. Eigentlich müsste man nun an politische Führungspersonen appellieren, Kriegsbeile zu begraben und sich auf die gemeinsamen Werte zu besinnen. Dafür bräuchte es verantwortlich kommunizierende Eliten, das sehe ich zurzeit überhaupt nicht. Darum bin ich nicht optimistisch, was eine Beruhigung anbelangt.
Könnten strengere Waffengesetze Abhilfe schaffen, um politische Gewalttaten zu verhindern?
Grundsätzlich wissen wir: Weniger Schusswaffen bedeuten weniger Schusswaffentötungen. Bei Taten wie Schulamokläufen würde eine Abrüstung sehr wohl helfen. Ich habe aber meine Zweifel, ob das bei politischen Attentaten auch der Fall ist. Dahinter steckt viel Planung.
Wie steht es um die politische Gewalt in der Schweiz?
Die Schweiz und die USA sind andere Welten, was den Polarisierungsgrad und die Gewaltbereitschaft angeht. In der Schweiz gibt es nicht zwei politische Blöcke wie in den USA. Wir sind auf Konsens angewiesen, darum müssen wir uns zusammenraufen. Die Schweiz ist eine sozialere und gleichere Gesellschaft. Natürlich, auch in der Schweiz gibt es Feindbilder. Aber der Nährboden ist weniger gross, dass sich diese in Gewalt umwandeln. Den Grossteil der politisch motivierten Gewalt in der Schweiz machen Sachbeschädigungen aus.
Sehen Sie eine Tendenz, dass sich die gesellschaftliche Stimmung auch in der Schweiz aufheizt und dies vermehrt zu politischer Gewalt führen könnte?
Ich sehe keinen Trend, der darauf hinweist, dass wir auf dem Weg in US-amerikanische Verhältnisse sind. Aber es gibt auch hier Unsicherheitsmomente. Die Coronazeit hat beispielsweise gezeigt, dass es auch in einer grundsätzlich friedlichen Gesellschaft wie der Schweiz zu aggressiven politischen Konflikten kommen kann.
„Ob die Tat tatsächlich Ausdruck gesellschaftlicher Polarisierung ist, lässt sich derzeit nicht sagen.“