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Wie eine Schweizerin gegen den Elektro-Schrott-Irrsinn in Indien kämpft

Viel zu viel Elektroschrott: In Indien werden Laptops im Co-Working-Space zerlegt

Die Schweizerin Dea Wehrli lanciert in Indien ein neues Modell im Kampf gegen den Elektroschrott.
23.05.2022, 17:05
Annika Bangerter / ch media
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Ein Mann kniet in einem lärmigen Stadtteil von Delhi über einem Röhrenfernseher und zertrennt ihn in Einzelteile. Sein Nachbar schält Kupfer aus Elektrokabeln, ein Haus weiter schwenkt ein anderer eine graue Brühe. Mit Quecksilber löst er Gold aus kleinsten Elektroschrottteilen heraus, trägt dabei weder Schutzmaske noch Handschuhe. Einige Meter nebenan spielen seine Kinder.

Solche und ähnliche Szenen kennt die Schweizerin Dea Wehrli. Sie hat in Indien unzählige Berge von Elektroschrott gesichtet und mit jenen Menschen gesprochen, die alte Computer, Smartphones, Kühlgeräte oder Leiterplatten auseinanderschrauben – die sogenannten Zerleger.

«Sie leben vom Erlös der verkauften Einzelstücke und der separierten Materialien. Allerdings belastet ihre Arbeit oft die Umwelt und die Gesundheit der Menschen in der näheren Umgebung.»

Die Umweltwissenschafterin hat das Projekt Ecowork mitinitiiert. Dieses lanciert eine neue Idee, um die zig Probleme rund um den Elektroschrott in den Griff zu bekommen – und zwar mithilfe von Co-Working-Spaces. Was digitale Arbeitsnomaden bekannt gemacht haben, wird nun auch für Zerleger in Indien angeboten. Diesen Sommer eröffnet Wehrli mit Ecowork in Delhi den ersten Co-Working-Space, in dem Elektroschrott auseinandergeschraubt wird.

Elektroschrott in Indien
Viel Elektroschrott und harte Arbeit für die vielen Zerleger in Indien.Bild: www.ecowork.international

Elektroschrott landet sonst in Flüssen und an Strassenrändern

Kleinstunterunternehmer erhalten gegen eine geringe Gebühr einen legalen, sicheren und mit Werkzeugen und Schutzausrüstung ausgestatteten Arbeitsplatz. Sie bleiben dabei selbstständig erwerbend. Indem sie sich mit anderen Mieterinnen und Mietern vor Ort zusammenschliessen, können sie die Materialmenge steigern und dadurch höhere Preise verlangen. Um die Entsorgung von nicht wiederverwertbaren Materialien kümmert sich dann Ecowork und gibt diese in extra dafür eingerichtete Deponien. Bislang landen diese meistens in Flüssen, auf Müllbergen oder an Strassenrändern, wobei entwichene Giftstoffe in den Boden sickern.

Das sind nicht die einzigen Probleme: Informelle Recycler setzen für ihre Arbeit oft auch starke Chemikalien wie Salpeter- oder Schwefelsäure ein, um Materialien aus dem Elektroschrott zu lösen. Diese verschmutzen danach die Umwelt.

3.2 Millionen Tonnen Elektroschrott in Indien pro Jahr

Indien hat riesige Probleme mit seinem Elektroschrott. Über 90 Prozent davon werden im informellen Sektor verarbeitet. Die Mengen sind gigantisch: Gemäss dem «Global E-Waste Monitor 2020» fallen in Indien pro Jahr 3.2 Millionen Tonnen Elektroschrott an. Das Land liegt damit weltweit auf dem dritten Platz.

Die Problematik beschäftigt Wehrli auch als Wissenschafterin. Sie arbeitet an der Forschungsanstalt Empa, wo sie zu Elektroschrott forscht und parallel dazu mit ihrem Ecowork-Team das Projekt in Indien vorantreibt. Nicht alles lässt sich von der Schweiz aus organisieren. Diesen Frühling war Wehrli deshalb erneut in Indien, um den Mietvertrag einer 2000 Quadratmeter grossen Halle abzuschliessen. In den nächsten zwei Monaten wird darin die Infrastruktur aufgebaut. Am Ende sollen Arbeitsplätze für bis zu 70 Zerleger entstehen.

Es sind praktische Fragen, die Wehrli momentan beschäftigen: Welches Lüftungssystem funktioniert in der Halle? Wie kann an jedem Arbeitsplatz genügend Licht geschaffen werden? «Das Gebäude befindet sich im Rohbau, wir bauen es nun für unsere Zwecke aus», sagt Wehrli. Weitaus schwieriger sei es, alle Dokumente, Lizenzen und Versicherungen zu beschaffen. Die Verarbeitung von Elektroschrott ist zwar in Indien reglementiert, sagt Wehrli. Doch das kümmert im informellen Sektor kaum jemand.

Blick auf Elektro-Schrott in der Elektro-Recycling-Firma Immark am Montag, 8. April 2013 in Regensdorf. (KEYSTONE/Ennio Leanza)..
Berge von Schweizer Elektroschrott, Recycling-Firma Immark, 8. April 2013.Bild: KEYSTONE

Es fehlt an legalen Lösungen

Ein Gesetz besagt etwa, dass die Arbeiten nur in den Industriezonen ausgeführt werden dürfen. Viele Zerleger trennen den Schrott jedoch im Parterre oder Hinterhof ihres Hauses. Die Polizei registriere dies zwar, sagt Wehrli, aber gegen ein Bestechungsgeld lassen sie die Zerleger weiterarbeiten. «Die Polizeikontrollen nehmen allerdings zu, der Druck auf den informellen Sektor steigt somit. Gleichzeitig fehlt es an legalen Lösungen», sagt die 32-Jährige.

Als Zerleger arbeiten in Indien primär Angehörige von Minderheiten. Das seien vorwiegend Muslime, mehrheitlich Männer von jung bis alt, sagt Wehrli. «Von aussen betrachtet, sieht die Bewirtschaftung des Elektroschrotts nach Chaos aus. Doch der informelle Sektor ist sehr gut organisiert. Es steckt ein riesiges Netzwerk und System dahinter.» Es gebe grössere Akteure, die gut damit verdienen, aber auch unzählige kleinere, die am Existenzminimum leben. Letztere sollen durch Ecowork ihre Situation verbessern können.

Gründerin eines Unverpacktladens

Es ist nicht das erste Projekt von Dea Wehrli, das die Abfallberge verringern soll. In Zürich hat sie nach ihrem Studium der Umweltwissenschaft mit «Chez Mamie» (heute Granel) einer der ersten Unverpacktläden der Stadt mitgegründet. Nachdem sie am Weltwirtschaftsforum in Davos half, das Abfallmanagement zu verbessern, folgte ein Stipendienprogramm der Mercator Stiftung. Es ermöglichte ihr verschiedene Auslandsaufenthalte – einer davon in Indien.

Dort arbeitete sie in einem Co-Working-Space zusammen mit einem Inder, der Familienangehörige hat, die mit Elektroschrott ihr Geld verdienen. Irgendwann warf er die Frage auf, weshalb es solche Räume eigentlich nur für Arbeitende vor einem Laptop gebe. Die Idee zu einem Co-Working-Space für Zerleger entstand.

Das Projekt soll selbsttragend werden

Auch der Betriebsleiter hat früher im informellen Sektor gearbeitet. Ohne solche Schlüsselpersonen liesse sich das Projekt kaum realisieren, sagt Wehrli. Um dieses nicht an den Bedürfnissen der Kleinstunternehmer vorbeizuplanen, führte das Ecowork-Team Workshops mit ihnen durch. Dabei kam unter anderem heraus, dass ihnen ein Gebetsraum wichtiger schien als eine Versicherung oder saubere Luft am Arbeitsplatz. Das Projekt wird heute finanziell von Spenden und Zuschüssen unterstützt. Langfristig soll das Projekt selbsttragend werden. Die Initianten hoffen, dass es als Modell für ähnliche Co-Working-Spaces im Abfallbereich dient.

Dass in der baldigen Ecowork-Halle auch Elektroschrott aus der Schweiz eintrifft, sei unwahrscheinlich, sagt Wehrli: «Elektroschrott nach Indien zu exportieren, ist verboten. Fachgerecht entsorgte Elektrogeräte werden in der Schweiz verarbeitet und gelangen teilweise in europäische Länder zur Weiterverarbeitung.» (aargauerzeitung.ch)

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