Recep Tayyip Erdogan oder Kemal Kilicdaroglu? Darüber entscheiden Türkinnen und Türken in dieser Woche ein zweites Mal, in einer Stichwahl. Im ersten Wahlgang holte Amtsinhaber Erdogan 49.4 Prozent aller Stimmen. Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu 45 Prozent. Damit stehen Erdogans Chancen gut, die Wahl für sich zu entscheiden.
Unterstützen werden ihn die Stimmberechtigten in der Schweiz dabei wohl nicht. Sie stimmten im ersten Wahlgang mit 56 Prozent für Kilicdaroglu. Anders sieht es bei unseren deutschsprachigen Nachbarn aus. In Deutschland stimmten zwei Drittel und in Österreich gar 72 Prozent für Erdogan.
Woher kommt dieser Unterschied? Immerhin sieht die Geschichte der türkischen Diaspora in den drei Ländern ähnlich aus. Sie beginnt Anfang der 1960er-Jahre.
Damals befand sich die Türkei in einer Wirtschaftskrise. Und Deutschland mitten im Wirtschaftswunder. Die beiden schlossen darum ein Anwerbungsabkommen ab. Die türkischen Gastarbeiter sollten als günstige Fachkräfte und Handwerker den deutschen Aufschwung befördern. Und das taten sie. So gut, dass bald weite Teile Westeuropas Gastarbeiter aus der Türkei rekrutierten. Österreich schloss 1964 ein entsprechendes Abkommen ab. Die Schweiz folgte 1969.
Anfang der 1970er-Jahre hatte die Türkei über 780'000 Arbeitskräfte vermittelt, wobei 80 Prozent davon allein nach Deutschland gingen, wo heute noch die grösste türkische Diaspora lebt. In die Schweiz kamen bis dahin rund 36'000 türkische Gastarbeiter. Nach Österreich rund 65'000. Die meisten von ihnen stammten aus einfachen Verhältnissen aus Zentralanatolien.
In der Folge des Militärputschs von 1980 kam es zur ersten politisch motivierten türkischen Migrationswelle nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Damals ersuchten vor allem Intellektuelle und Personen linker Gruppierungen Asyl. Kurdinnen und Kurden aus dem Südosten der Türkei flüchteten wiederum in den 1990ern, als es zu Auseinandersetzungen zwischen der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und dem türkischen Militär kam.
Gemäss Erol Yildiz, Soziologe und Professor an der Universität Innsbruck mit Forschungsfokus auf Migration und Bildung, wählen Intellektuelle und Minderheiten tendenziell die Opposition. Und ebendiese müssten aufgrund der beiden politischen Migrationswellen einen relativ grossen Anteil an der türkischen Diaspora in der Schweiz und Österreich haben. Grösser als in Deutschland. Dennoch stimmten sie in Österreich völlig anders als hierzulande. Warum?
«Es ist wichtig zu wissen, wer am Ende wirklich wählt», sagt Yildiz. Denn in allen drei Ländern gingen nur etwa 50 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne. Konservative Türkinnen und Türken seien besonders in österreichischen Grossstädten wie Wien gut vernetzt - über Moscheen und Vereine. «Für Erdogan ist es in Österreich deshalb einfacher, auf diese Menschen Einfluss zu nehmen und sie zu mobilisieren.»
In Deutschland wiederum kann den Wahlberechtigten sauer aufgestossen sein, dass Politik und Medien zur Abwahl Erdogans aufriefen, mutmasst Yildiz. «Viele fühlten sich dadurch bevormundet.» Der Tenor: Einmal mehr will uns der Westen seine Haltung aufzwingen.
Hinzu kommt, dass Erdogan den Kontakt zu Auslandtürkinnen und -türken stets gut gepflegt hat. «Er gab ihnen das Gefühl, sich um sie zu kümmern. Auch wenn das natürlich völliger Quatsch ist», sagt Yildiz. Doch diese Propaganda und der Nationalismus seien auf offene Ohren gestossen. Vor allem in Deutschland und Österreich.
Dort erlebten Türkinnen und Türken noch immer Rassismus und strukturelle Diskriminierung, sagt Yildiz. Selbst in der dritten Generation. «Dieses Gefühl, unfair behandelt zu werden, nicht dazuzugehören, schürt eine Abneigung gegen das Land, in dem man lebt. Und dessen Werte.» Strukturelle Nachteile erlebten Türkinnen und Türken zwar auch in der Schweiz. Diese befinden sich gemäss Yildiz aber auf deutlich tieferem Niveau.
In der hitzigen Diskussion rund um die türkischen Wahlen rät Yildiz dazu, den Einfluss Wahlberechtigter im Ausland nicht zu überschätzen. Schlussendlich sei dieser gering. In der Schweiz leben 106'000 Wahlberechtigte, in Österreich 111'000 und in Deutschland 1.5 Millionen. Zusammen würden sie nur 2.8 Prozent aller Stimmen ausmachen. (aargauerzeitung.ch)