Die USA sind ein Land der Extreme, im Guten wie im Schlechten. Bald 250 Jahre sind vergangen, seit sich der Kontinentalkongress in Philadelphia für unabhängig von der britischen Krone erklärt hatte. Seither hat die Republik viele politischen Hochs und Tiefs durchlebt, bis hin zum mörderischen Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten.
Der letzte Monat aber war selbst für US-Verhältnisse aussergewöhnlich. Das Rennen um die US-Präsidentschaftswahl am 5. November wurde mehrfach auf den Kopf gestellt. Heute scheint irgendwie nichts mehr so zu sein wie vor dem 27. Juni. Die eine Partei hat die Kandidatur ausgewechselt, die andere zelebriert ihren Anführer als Märtyrer und Halbgott.
Es lohnt sich, den Monat Revue passieren zu lassen anhand der drei Hauptfiguren.
Die Schwächen des amtierenden Präsidenten waren schon lange ein Thema. Er wirkte zunehmend fragil und hatte selbst mit dem Ablesen vom Teleprompter Mühe. Dennoch hielt Biden an seiner Kandidatur für eine zweite Amtszeit fest. Noch Anfang März brachte der 81-Jährige die Zweifler mit einer energischen Rede zur Lage der Nation zum Verstummen.
Dann kam der 27. Juni und die erste Fernsehdebatte mit Donald Trump auf CNN. Manche hofften, Biden werde an die «State of the Union»-Performance anknüpfen. Stattdessen erlebte er den totalen Absturz. Die Demokraten waren konsterniert. Gleichzeitig tauchten Berichte auf, wonach der Präsident auch im Weissen Haus zunehmend verwirrt sei.
Offensichtlich hat Joe Biden in den letzten Wochen und Monaten abgebaut, geistig und körperlich. Forderungen nach einem Rückzug seiner Kandidatur wurden laut. Biden und sein Umfeld aber flüchteten sich in Realitätsverweigerung. Der Präsident gab bizarre Interviews, in denen er erklärte, nur «Gott der Allmächtige» könne ihn zum Verzicht bewegen.
Mit seinen engsten Angehörigen und Vertrauten zog sich Biden in eine Wagenburg zurück. In trumpistischem Jargon wetterte er gegen «Eliten» und behauptete, die Parteibasis stehe hinter ihm. Er ignorierte, dass die Spenden weitgehend versiegten. Bei den Demokraten brach Panik aus, und schliesslich musste sich Biden wegen einer Covid-Infektion isolieren.
Für den Ex-Präsidenten und Kandidaten der Republikaner lief es optimal. Dann kam der 13. Juli und ein Auftritt in Butler im Bundesstaat Pennsylvania. Von einem Dach schoss ein 20-Jähriger mit einem A-15-Sturmgewehr auf Trump. Sein Motiv ist unklar. Er soll sich gemäss dem FBI im Vorfeld über das Attentat auf Präsident John F. Kennedy informiert haben.
Der Secret Service jedenfalls hat beim Schutz versagt. Die Direktorin trat zurück. Trump überlebte wohl nur, weil er den Kopf weggedreht hatte. Die Kugel traf ihn am Ohr. Seine Reaktion zeigte ihn als begnadeten Instinktmenschen. Er richtete sich auf, ballte die Faust und rief «Fight, fight, fight!». Es war ein ikonischer Moment, in Bild und Ton.
Manche Kommentatoren waren nach dem Attentat überzeugt, dass Trumps Wahlsieg nicht mehr zu verhindern sei. Für die Republikaner galt dies erst recht. Nur zwei Tage nach dem Anschlag begann der Parteitag in Milwaukee, der zu einer Huldigungsfeier für den «Märtyrer» und «Erlöser der Nation» wurde. Die Grand Old Party verkam endgültig zur Trump-Sekte.
Der Kandidat unterstrich dies, indem er mit J. D. Vance eine halb so alte Version seiner selbst zum Vize-Kandidaten kürte. Sein Versprechen, nach dem Attentat versöhnlicher sein zu wollen, hielt er knapp die Hälfte seiner Nominationsrede durch. Dann verfiel Trump in den üblichen ausufernden Hetz- und Lügenjargon. Er wähnte sich als sicherer Sieger.
Das Alter ist ein fieser Geselle. Manche sind mit über 80 noch fit wie ein Turnschuh. Joe Biden gehört nicht dazu. Der Druck auf ihn wuchs massiv. Führende Demokraten wie Nancy Pelosi machten ihm klar, dass er im November gegen Trump keine Chance haben würde. Bidens Bollwerk bröckelte, und am letzten Sonntag kam es, wie es kommen musste.
Joe Biden verkündete den Rückzug seiner Kandidatur und empfahl Vizepräsidentin Kamala Harris als Nachfolgerin. Die Dynamik, die dadurch entstand, überrumpelte viele Beobachter. Die Reihen hinter der 59-Jährigen schlossen sich rasant. Bill und Hillary Clinton sprachen sich für Harris aus. Es folgte ihr alter Freund Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien.
Mittlerweile haben sich alle ernsthaften Rivalinnen und Rivalen auf Kamala Harris festgelegt. Die Nomination ist ihr sicher. Um die ehemalige Staatsanwältin ist eine Euphorie entstanden, die man seit Barack Obama nicht erlebt hat und die weder Hillary Clinton noch Joe Biden entfachen konnten. Sie sammelt Spendengelder in Rekordhöhe.
Ihre ersten Auftritte zeigen, dass Kamala Harris keine charismatische und feurige Rednerin ist. Aber sie hat seit Sonntag alles richtig gemacht. Sie erlöst die Amerikaner von der Qual-Wahl zwischen zwei unpopulären alten Männern. Am Parteitag vom 19. bis 22. August in Chicago dürften die gerade noch zerstrittenen Demokraten Einigkeit zelebrieren.
Die Parteileitung der Demokraten will bis zum 7. August eine virtuelle Nomination unter den Delegierten abhalten. Es geht auch um Meldefristen in Bundesstaaten wie Ohio. Eine ernsthafte Konkurrenz für Kamala Harris gibt es bislang nicht und wird es kaum mehr geben. Bis zu besagtem Zeitpunkt muss sie sich auf eine Vize-Kandidatur festlegen.
Drei Namen stehen laut Medienberichten auf ihrer Shortlist: der US-Senator und Ex-Astronaut Mark Kelly aus Arizona sowie die Gouverneure Roy Cooper (North Carolina) und Josh Shapiro (Pennsylvania). Letzterer soll in der Pole-Position sein. Er vertritt den bei dieser Wahl vielleicht wichtigsten Swing State. Ihn fürchten offenbar auch die Republikaner.
Sie stehen vor einer neuen Ausgangslage. Verräterisch war vor allem ein Satz aus Donald Trumps Postings: «Jetzt müssen wir von vorn anfangen.» Instinktpolitiker sind eben meistens schlechte Strategen. Offenbar hat er nicht damit gerechnet, dass die Demokraten «Crooked Joe» Biden auswechseln könnten. Jetzt wütet er gegen die «ultralinke» Kamala Harris.
Ob die für den 10. September geplante zweite Fernsehdebatte stattfinden wird, ist offen. Trump äusserte sich zuletzt zweideutig. Er ahnt wohl, dass es ganz anders sein wird als vor einem Monat. Kamala Harris mag keine grosse Rednerin sein, aber die durch Kreuzverhöre gestählte Ex-Anklägerin ist eine starke Debattiererin, die Trump einheizen würde.
Als Frau mit multiethnischem Background ist sie eine klare Alternative zum alten weissen Donald Trump. Man fragt sich, wann er auf die glorreiche Idee kommen wird, seinen Vize feuern und durch eine Frau ersetzen zu wollen. Was er eigentlich nicht kann, denn J. D. Vance wurde gemeinsam mit ihm nominiert, doch darum schert sich ein Donald Trump nicht.
Das Rennen ist wieder offen. Das zeigen erste Umfragen. Bei der New York Times liegt Harris knapp hinter Trump, bei Reuters/Ipsos hingegen vorn. Bis November dürfte einiges passieren. Aber vielleicht wird man es irgendwann als absoluten Glücksfall betrachten, dass die erste Fernsehdebatte zu einem ungewohnt frühen Zeitpunkt stattfand.