Als 1995 die erste Weltklimakonferenz - die COP1 - in Berlin stattfand, war auch der Berner Thomas Stocker dabei. Er ist einer der renommiertesten Klimaforscher der Schweiz und leitet seit bald dreissig Jahren die Abteilung für Klima- und Umweltphysik an der Universität Bern. Nun, da in Ägypten die 27. Weltklimakonferenz zu Ende geht, muss Stocker aus der Ferne zusehen, wie die Schweizer Delegation unter der Leitung von Umweltbotschafter Franz Perrez mit anderen Nationen über Massnahmen im Kampf gegen den Klimawandel verhandelt.
Dass kein namhafter Klimaexperte Teil der Delegation ist, ärgert den 63-Jährigen: «Es wäre gerade an solchen Weltklimakonferenzen sehr wichtig, nicht nur politische Diskussionen zu führen, sondern auch die neusten Resultate der Wissenschaft einfliessen zu lassen. Doch dazu bräuchte es gewichtige Vertreterinnen und Vertreter aus der Wissenschaft in der Delegation.» Gerade für die Schweiz als Land, das bekannt sei für seine «schlagkräftige, interdisziplinäre Klimaforschung» und in diese auch viel Geld investiere, sei der Einbezug der Wissenschaft an internationalen Konferenzen von enormer Bedeutung, so Stocker: «Das würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Schweiz erhöhen, sondern könnte auch mithelfen, die Akzeptanz bestimmter Massnahmen zu erhöhen, indem diese wissenschaftlich begründet werden.»
Die Schweizer Verhandlungsdelegation in Sharm-el-Sheikh umfasst zwölf Mitglieder - darunter Vertreter aus dem Aussendepartement, dem Staatssekretariat für Wirtschaft und dem Umweltdepartement (Uvek). Begleitet wird die Delegation von drei Vertretern der Zivilgesellschaft. Dazu zählen Patrick Hofstetter vom WWF, Rupa Mukerji von der Entwicklungsorganisation Helvetas und Henrique Schneider vom Schweizerischen Gewerbeverband. Man versuche, die Delegation immer möglichst klein zu halten, um die Emissionen durch die Flüge auf ein Minimum reduzieren zu können, sagt Géraldine Eicher, welche die Delegation in Ägypten begleitet und für die Kommunikation zuständig ist.
Die Verhandlungen der #COP27 in Sharm-el-Sheik sind eröffnet. Die 🇨🇭 hat sich an der Eröffnungsrunde dafür eingesetzt, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht verloren geht. Laufende Informationen zu den wichtigsten Anlässen auf https://t.co/YgtVPYTumt
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Den Vorwurf, die Wissenschaft werde zu wenig berücksichtigt, lässt Eicher so nicht stehen: Schliesslich unterstütze Géraldine Pflieger von der Universität Genf die Delegation bei wissenschaftlichen Fragen. Die Professorin für Stadt- und Umweltpolitik sei im Übrigen nicht vom Bund ausgewählt, sondern von der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) als Vertreterin der Wissenschaft nominiert worden.
Und weiter: «Der enge Austausch zwischen Wissenschaft und Politik ist dem Uvek ein wichtiges Anliegen.» Eben deshalb habe Bundesrätin Sommaruga per Anfang dieses Jahres das Klima-Beratungsmandat an Proclim übertragen. Dieses Forum könne «die komplexen Fragen der klimatischen Herausforderungen besser beantworten» als die Vorgängerorganisation OcCC, die als Klimabeirat des Umweltdepartements fungierte. Und zwar deshalb, weil Proclim breit abgestützt sei und im Gegensatz zum OcCC Wissenschafterinnen und Wissenschafter mit unterschiedlichem Hintergrund vertreten seien.
In Wissenschaftskreisen hat die Auflösung des Mandats für das OcCC vor einem Jahr für Diskussionen gesorgt, die bis heute nachhallen. So ist denn auch Stocker nicht der Einzige, der sich wünscht, dass die Klimaforschung generell mehr Gehör in Politik und Verwaltung findet. In einem Interview mit CH Media zeigte sich jüngst auch Umweltökonomin Renate Schubert besorgt, dass die Schweiz ohne den koordinierten Austausch zwischen der Wissenschaft und dem Gesamtbundesrat im internationalen Diskurs zurückfallen werde. Sie hoffe deshalb sehr, «dass die Schweiz im Zuge der Ersatzwahlen im Bundesrat und der darauffolgenden Führungswechsel in den Departementen wieder einen wissenschaftlichen Klimabeirat einsetzen wird».
Und auch der prominente Klimaforscher Reto Knutti von der ETH Zürich findet, dass «die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft sowie der Dialog mit der Öffentlichkeit in der Schweiz noch viel Luft nach oben haben». Aktuell sei die Schweiz nicht auf Kurs, was die Klimaziele von Paris betreffe, und es gebe auch keinen klaren Plan, wie diese Ziele erreicht werden sollen. «Eine unabhängige, einordnende und erklärende Stimme, die auf blinde Flecken hinweist, kann die Glaubwürdigkeit politischer Entscheide unterstützen», ist Knutti überzeugt. (aargauerzeitung.ch)