Es knallt. Dann spürt Roger Español einen Schmerz. Er geht zu Boden, schreit. Journalisten lassen das Filmen sein und kümmern sich um den Verletzten. Die Szene, die man heute auf YouTube ansehen kann, veränderte das Leben des damals 38-jährigen Musikers. Sie spielte sich am 1. Oktober 2017 in Barcelona ab, am Tag des illegalen Referendums über die Unabhängigkeit der Region von Spanien.
Polizisten stürmten Wahllokale und gingen gewaltsam gegen Aktivisten vor, welche die Urnen vor der Beschlagnahmung schützten wollten. Vor der Schule Ramon Llul in Barcelona kam es zu Ausseinandersetzungen. Ein Polizist feuerte eine Gummigeschoss ab. Es traf Español genau ins Auge.
Gerichte werden sich noch mit der Frage befassen, ob der Polizist illegal gehandelt, oder Español den Schuss durch eigene Agressionen gegen die Polizei quasi provoziert hat.
Am Sonntag schon entscheiden die Wahlberechtigten aber, ob sie Español in den Senat wählen wollen, das Madrider Pendant zum Ständerat. Er kandidiert für die Partei des geflüchteten Katalanenpräsidenten Carles Puigdemont. Español will im Senat für die Unabhängigkeit Kataloniens werben − quasi als lebender Beweis für die Repression des Zentralstaates.
Das Thema ist wieder aktuell. Seit die Führungsriege der katalonischen Seperatisten Mitte Oktober zu langen Haftstrafen verurteilt wurde, finden wieder regelmässig Demonstrationen statt und die Polizei verschiesst wieder Gummigeschosse. Dabei hat das katalanische Parlament diese Waffe eigentlich verboten. Die Polizisten der Policia Nacional sehen sich aber nicht an das Verbot gebunden.
Als diese Zeitung Español per Videotelefonanruf in seiner Wohnung erreicht, sieht man im Hintergrund eine strahlend weisse Wand. Trotz Wahlkampf und Proben mit drei verschiedenen Bands fand der heute 40-jährige Musiker und Familienvater noch Zeit, seine Wohnung zu streichen.
Die Ärzte konnten sein rechtes Auge retten, sehen kann er damit aber nicht. Die Pupille bewegt sich kaum mehr. Es wirkt, als würde er das Auge zukneifen.
Español wurde in Terrassa, eine Zugstunde von Barcelona entfernt geboren. Seine Vorfahren stammen aus Saragossa, also aus dem Teil Spaniens, von dem sich ein Teil der Katalanen lossagen will. Dass er von spanischsprachigen Einwanderern abstammt, zeigt sein Nachnamen gleich doppelt. Denn die kleine Welle auf dem ‹Ñ›, Tilde genannt, existiert in der katalanischen Sprache nicht.
Roger will seinen Nachnamen aber nicht zu «Espanyol» katalanisieren. «Einwanderer sind hier willkommen, ob mit oder ohne Unabhängigkeit. Darum stehe ich auch zu meinem Nachnamen», sagt er. Die Unabhängigkeit Kataloniens interessiete ihn in seiner Jugend nicht besonders. Er war damals zwar auch schon politisch. Es ging ihm aber eher um zu hohe Mieten oder Freiräume für die Jugend. Er lebte auch ein paar Jahre in besetzten Häusern.
Heute glaubt Español, dass die Unabhängigkeit der einzige Weg ist, um seine sozialpolitischen Anliegen durchzubringen. Nach dem Vorfall am Referendumstag begleiteten ihn Schmerzen und Schwindelgefühle. Er musste zudem lernen, mit der Einschränkung zu leben. «Wenn man nur mit einem Auge sieht, ist es schwierig, Distanzen einzuschätzen, etwa, wenn man einen Kochtopf auf den Herd stellt», sagt er.
Heute führt Español wieder ein fast normales Leben, kann etwa wieder Autofahren. Und er geht auch wieder an Demonstrationen. «Manchmal fürchte ich mich davor, auch noch mein gesundes Auge zu verletzen», sagt er. Aber es sei ihm wichtig zu zeigen, dass ihn die Polizeigewalt nicht einschüchtere und schon gar nicht vom Demonstrieren abhält.
Obwohl seine Partei schwächelt, hofft Español gewählt zu werden (siehe Box unten). Allerdings würde seine Wahl nichts an der Pat-Situation in Spanien ändern. Noch grösser als Españols politische Ambitionen ist seine Sehnsucht danach, einfach wieder Musiker zu sein. Wie vor dem Tag, als er die Sehkraft seines rechten Auges verlor.
(aargauerzeitung.ch)
Nebenbei sei noch erwähnt, dass meine Mutter wieder keinen Wahlzettel aus Spanien bekommen hat, wie viele andere Auslands-Spanier auch.