Knapp drei Wochen vor der entscheidenden Präsidentschaftswahl in der Türkei schwächelt Recep Tayyip Erdogan – nicht nur in den Umfragewerten. So musste er aus gesundheitlichen Gründen Auftritte absagen. Im Netz war gar die Rede von einem Herzinfarkt.
Was steckt hinter diesen Gerüchten?
Nach einem langen Wahlkampftag gibt Erdogan im regierungsnahen Fernsehsender «Ülke TV» ein längeres Interview – oder so war der ursprüngliche Plan. Doch die Ausstrahlung beginnt aus unbekannten Gründen bereits mit 90 Minuten Verspätung. Nach nur 10 Minuten Gespräch muss das Interview unterbrochen werden. Warum?
During an interview with the Ülke TV channel, #Turkish President #Erdogan suddenly became ill, he began to faint. The interview was interrupted, the camera showed the editor-in-chief of Ülke TV, Hassan Ozturk, who tried to get up from his chair with the words "Advertising!". 1/2 pic.twitter.com/72VohQ7uUQ
— Karina Karapetyan (@KarinaKarapety8) April 26, 2023
Während der Moderator eine längere Frage vorliest, beginnt Erdogan hörbar zu röcheln. Die Kamera bleibt dabei auf dem Fragesteller gerichtet, man kann nur erahnen, wie der Präsident in diesem Moment aussieht – der Moderator schaut ihn sehr besorgt an. Und zischt schliesslich die Mitarbeiter ausserhalb des Bildausschnittes an, Werbung zu schalten. Noch kurz ist Erdogans Stimme zu hören: «Oh we, oh weh.» Dann flimmert Werbung über den Bildschirm.
Rund 20 Minuten später erscheint der Präsident wieder. Er erklärt dem Publikum, dass er sich eine Magenverstimmung zugezogen habe und entschuldigt sich. Das Interview wird kurz fortgesetzt, bis die Sendung kurz darauf zu Ende ist.
Im Anschluss sagt Erdogan via Twitter sämtliche Wahlkampftermine für den folgenden Tag ab. Er bedankt sich zudem für all die Genesungswünsche, die er aufgrund seiner «leichten Beschwerden» erhalten habe. Ab Donnerstag sei er aber (hoffentlich) wieder fit.
Einer der Ersten, der ihm gute Besserung wünschten, war übrigens sein Konkurrent Kemal Kilicdaroglu. Der oppositionelle Politiker liegt bislang in Wahlumfragen vor Erdogan.
Doch auch am Donnerstag ist Erdogan nicht hundertprozentig einsatzfähig, wie es scheint. So hat er zwei Wahlkampftermine im Süden der Türkei abgesagt. An der Einweihung des ersten türkischen Atomkraftwerkes, die heute Abend geplant ist (und der Höhepunkt des Wahlkampfes sein sollte), will er per Video-Call teilnehmen.
Laut russischen Medien habe Erdoğan noch vor der Kraftwerkseinweihung mit Putin bezüglich der Ukraine telefoniert. Die staatsnahe, russische Zeitung «RIA Novosti» veröffentlichte dazu Bilder, die den türkischen Präsidenten im Anzug an seinem Arbeitstisch und angeblich bei ebendiesem Telefonat zeigen. Darauf wirkt Erdogan nicht besonders angeschlagen.
Und auch laut dem türkischen Gesundheitsminister sei der Präsident «auf dem Weg zur Besserung». Er habe am Donnerstagmorgen mit Erdogan gesprochen, sagte Minister Fahrettin Koca bei einem Auftritt. «Sein Gesundheitszustand ist überaus gut.»
Gerüchte, dass Erdogan einen Herzinfarkt erlitten habe, wurden von der Regierung vehement dementiert. Auch, dass der Präsident ins Krankenhaus eingeliefert wurde, sei «haltlose Desinformation».
Dass es ihm «überaus gut» geht, scheint aber nicht richtig ins Bild zu passen – denn mitten im Wahlkampf macht man keine zweitägige Pause, wenn es einem «überaus gut» geht.
Auch die «Aargauerzeitung» schreibt dazu: «Für einen Mann seines Alters sind Erdogans gesundheitliche Probleme im Wahlkampfstress nichts Ungewöhnliches. Dass er mindestens zwei Tage statt wie angekündigt nur einen Tag ausser Gefecht ist, deutet jedoch darauf hin, dass seine Erkrankung ernster sein könnte, als er zunächst angenommen hatte.»
Es ist nicht das erste Mal, dass Erdogan medizinische Probleme hat. Häufig wurden diese jedoch von seinen politischen Gegnern aufgebauscht. So musste der Präsident sich 2011 einer Darmoperation unterziehen. Dass er an Krebs erkrankt sei, dementierte er damals. 2017 wurde ihm während des Gebets in der Moschee schlecht; er tat es ab als Blutzucker-Problem. Und 2021 schlief er während des Redens ein.
Beim letzten Vorfall empfahl der Nahost-Experte Stephen Cook von der amerikanischen Denkfabrik CFR westlichen Regierungen, sie sollten sich auf ein vorzeitiges Ausscheiden Erdogans aus dem Amt vorbereiten. Als Antwort darauf veröffentlichte die türkische Regierung ein Video, das Erdogan beim Basketball-Spielen zeigt. «Unser Präsident ist gut in Form», kommentierte Präsidialamtssprecher Ibrahim Kalin. Wie man mittlerweile weiss, schied Erdogan damals nicht vorzeitig aus dem Amt.
Turkey’s President Recep Tayyip Erdogan played basketball with young people in Istanbul during the opening of a national garden in the Umraniye district pic.twitter.com/zrQOU8muuY
— TRT World (@trtworld) November 5, 2021
Auch diesmal bemüht sich die Regierung, die Probleme des Präsidenten herunterzuspielen. Vizepräsident Oktay erklärte, Erdogan habe lediglich eine leichte Erkältung. Erdogan-Anhänger in den Medien schwärmten, die Anteilnahme der Bürger nach dem Schwächeanfall vom Dienstag zeige, wie beliebt der Präsident bei den Türken sei. Der Wahlsieg von Erdogan und seiner Partei AKP bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai sei sicher, hiess es seitens der Regierung auf Twitter.
Der Journalist Fatih Altayli von der Internetzeitung «Habertürk» erinnerte seine Leser daran, dass Erdogan ursprünglich in Erwartung eines sicheren Sieges weniger Auftritte geplant habe als bei früheren Wahlkämpfen. Dass er nun aber trotz seiner ohnehin hohen Arbeitsbelastung als Staatschef wieder über die Dörfer ziehe, sei ein Hinweis darauf, dass sich die Regierung ihrer Sache weniger sicher sei, als sie öffentlich zugebe.
(cpf, ergänzt mit Material der sda und CH-Media-Artikel)