Nach drei Wochen Krieg, Flucht und Vertreibung wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an diesem Donnerstag mit einem direkten Appell an Deutschland. Der 44-jährige soll am Morgen per Videoschalte im Bundestag sprechen. In der Nacht meldete die Ukraine erneut Kämpfe mit russischen Angreifern unter anderem in der Nähe der Hauptstadt Kiew. Grosse Sorge herrscht nach wie vor um die Menschen in der belagerten und teilweise zerstörten Hafenstadt Mariupol.
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Der Bürgermeister von Mariupol, Wadim Bojchenko, meldete in der Nacht über den Dienst Telegram, Menschen könnten die Stadt nun mit Privatautos verlassen. Binnen zwei Tagen seien rund 6500 Autos aus Mariupol herausgekommen. Doch gebe es keine Feuerpause, die Menschen seien unter Beschuss geflohen. Am Mittwoch hatte es in Mariupol einen verheerenden Bombenangriff auf ein Theatergebäude gegeben. Bojchenko sagte, dort hätten sich mehr als 1000 Menschen befunden, es sei eine «weitere Tragödie». Die Zivilisten sollen in dem Gebäude Schutz gesucht haben. Für den Angriff geben sich die Ukraine und Russland gegenseitig die Schuld.
Zum eigentlichen Kriegsgeschehen meldete die ukrainische Armee in der Nacht, es seien zwei weitere russische Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi Su-35 und Su-30 über der Region Kiew zerstört worden. An Land konzentrierten sich russische Einheiten demnach vor allem auf die Sicherung ihrer Geländegewinne. Es gebe Bemühungen russischer Truppen, südlich der Stadt Isjum vorzudringen, wohl um eine Offensive in Richtung Slowjansk fortzusetzen. Dabei seien sie aber nicht erfolgreich. Die russische Marine blockiere zudem nach wie vor die Schifffahrt im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres. Das russische Militär wiederum behauptete, die Besatzungen von 70 ausländischen Schiffen sässen wegen von ukrainischer Seite verminter Gewässer dort fest. Die Angaben beider Seiten können nicht unabhängig geprüft werden.
Russland hatte die Ukraine am 24. Februar angegriffen und verzeichnet seither Geländegewinne im Norden, Osten und Süden des Landes. Zugleich verhandeln beide Seiten über Optionen, den Krieg zu beenden. Dazu könnte sich die Ukraine möglicherweise für neutral erklären und im Gegenzug Sicherheitsgarantien erhalten.
Präsident Selenskyjs Berater Alexander Rodnyansky dämpfte jedoch in der ARD-Sendung «maischberger. die woche» die Hoffnung auf eine baldige Friedenslösung. Russland versuche, Zeit zu kaufen, um neue Truppen heranzuziehen und dann wieder eine Offensive starten.
Selenskyj selbst sagte in einer in der Nacht veröffentlichten Videobotschaft, seine Prioritäten in den Verhandlungen mit Russland seien klar: «Ein Ende des Krieges, Sicherheitsgarantien, Souveränität und Wiederherstellung der territorialen Integrität.» Vom Westen verlangte Selenskyj erneut mehr Druck: eine Flugverbotszone über der Ukraine sei nötig, dazu die Lieferung von Luftverteidigungssystemen, Flugzeuge, tödlichen Waffen und Munition sowie ein neues Sanktionspaket gegen Russland.
US-Präsident Joe Biden kündigte weitere Waffenlieferungen und Militärhilfen für die Ukraine in Millionenhöhe an. In einem 800 Millionen Dollar (750 Millionen Franken) schweren Hilfspaket seien unter anderem Flugabwehrraketen, Drohnen und Tausende Panzerabwehrwaffen enthalten, sagte Biden in Washington. Auch andere Nato-Staaten haben Waffen geliefert und Sanktionen verhängt.
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki forderte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und weitere Staats- und Regierungschefs zu einem Solidaritätsbesuch in Kiew auf - so wie es Morawiecki selbst zuletzt mit seinen Kollegen aus Tschechien und Slowenien getan hatte. «Sie sollen in die Augen der Frauen und Kinder blicken und ihnen helfen, ihre Leben und ihre Eigenständigkeit zu retten», sagte Morawiecki der «Bild» (Donnerstag).
Inzwischen sind nach UN-Angaben mehr als drei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Die Internationale Organisation für Migration zeigte sich in der Nacht besorgt über die Gefahr des Menschenhandels sowie der sexuellen Ausbeutung und des Missbrauchs. Es gebe eine zunehmende Gefährdung der persönlichen Sicherheit der fliehenden Menschen, erklärte die IOM in Genf.
In New York tagt abermals der UN-Sicherheitsrat in einer Dringlichkeitssitzung, um über mögliche Kriegsverbrechen Russlands zu sprechen. Am Mittwoch nannte US-Präsident Biden Russlands Präsidenten Wladimir Putin erstmals öffentlich einen «Kriegsverbrecher». (sda/dpa)