Cherson war die erste grosse ukrainische Stadt, die während des russischen Angriffskriegs in der Südukraine erobert wurde. Erst Ende September liess Putin die gesamte Region Cherson annektieren. Nun die Kehrtwende: Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu ordnete am 9. November den Abzug russischer Truppen über den Fluss Dnipro zum östlichen Ufer an. Personal, Waffen und Ausrüstung sollen über den Dnipro transportiert werden.
Aus russischer Sicht zieht Schoigu russische Soldaten aus Russland ab. Viele westliche, aber auch russische Militärexperten bezeichnen den Rückzug deswegen als eine Schmach für den Kreml.
Der ehemalige Kreml-Berater Sergei Markow betitelte den Rückzug auf Telegram als die grösste geopolitische Niederlage Russlands seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Andere Militärblogger sahen im Rückzug die natürliche Folge eines systematischen Versagens innerhalb der russischen Kommandostrukturen.
Für die Entscheidung gab es aber auch Lob. Der tschetschenische Staatschef Ramsan Kadyrow sagte, dass man mit der Entscheidung Tausende von Menschenleben gerettet hätte. Auch der Finanzier der Wagner Gruppe, Jewgeni Prigoschin, unterstützte den Rückzug öffentlich.
Nein, so schnell geht das nicht. Der britische Militärgeheimdienst berichtete am Donnerstag, dass russische Truppen mehrere Brücken zerstört und mutmasslich auch Minen gelegt haben sollen. Der Rückzug würde voraussichtlich mehrere Tage dauern.
Latest Defence Intelligence update on the situation in Ukraine - 10 November 2022
— Ministry of Defence 🇬🇧 (@DefenceHQ) November 10, 2022
Find out more about the UK government's response: https://t.co/VQ5RuGCleE
🇺🇦 #StandWithUkraine 🇺🇦 pic.twitter.com/K6DWlrgdzv
Derweil sind ukrainische Truppen bereits sieben Kilometer an zwei Abschnitten in den südlichen Gebieten Cherson und Mykolajiw vorgerückt. Dabei seien etwa 264 Quadratkilometer und zwölf Ortschaften zurückerobert worden, teilte der Oberkommandierende der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, im Nachrichtendienst Telegram mit.
Die ukrainische Führung hat bislang sehr zurückhaltend auf den angekündigten Rückzug reagiert. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak zeigte sich skeptisch: Er hat den russischen Truppen vorgeworfen, Cherson in eine «Stadt des Todes» verwandeln zu wollen. Das russische Militär habe «alles vermint, was sie können: Wohnungen, Abwasserkanäle». Die russische Artillerie plane, «die Stadt in Ruinen zu verwandeln», schrieb Podoljak auf Twitter.
RF wants to turn Kherson into a "city of death". Ru-military mines everything they can: apartments, sewers. Artillery on the left bank plans to turn the city into ruins. This is what "Russian world" looks like: came, robbed, celebrated, killed "witnesses", left ruins and left.
— Михайло Подоляк (@Podolyak_M) November 10, 2022
Die US-Denkfabrik «Institute for the Study of War» (ISW) hält es für unwahrscheinlich, dass es sich bei dem Rückzug um eine Falle handelt. Das ISW hat nach eigenen Angaben viele Anzeichen ausgemacht, dass sich die russische Armee kontinuierlich zurückzieht. «Russische Befehlshaber werden sicherlich versuchen, den ukrainischen Vormarsch zu verlangsamen, um einen geordneten Rückzug aufrechtzuerhalten. Einige Kräfte werden möglicherweise zurückbleiben, um die ukrainischen Truppen in der Stadt Cherson selbst aufzuhalten – aber diese Kämpfe werden ein Mittel zum Zweck sein, so viele russische Einheiten wie möglich geordnet abzuziehen.»
The #Russian Ministry of Defense (MoD) ordered Russian forces on the west (right) bank of the #Dnipro River to begin withdrawing to the east (left) bank today. https://t.co/ZnA57LH0qF pic.twitter.com/ohQrzVSSmX
— ISW (@TheStudyofWar) November 10, 2022
Der ehemalige deutsche General Roland Kuther erklärte im Gespräch mit der «Welt», dass der Rückzug «den Fakten geschuldet» sei. Tatsächlich war Cherson am Westufer des Dnipro eine strategisch verwundbare Position, seitdem der russische Vormarsch im Frühjahr südlich von Mykolajiw gestoppt wurde.
In den letzten Monaten wurde die russische Logistik auf beiden Seiten des Flusses mit HIMARS und anderen Raketenartillerien mit grösserer Reichweite beschossen. Dann wurden strategische Brücken ins Visier genommen. Letztlich die Pontons, die die Russen gebaut hatten, um ihre Truppen im Gebiet am anderen Flussufer zu versorgen.
Der Rückzug dürfte nach Ansicht verschiedenen Militärexperten deswegen eine Konsequenz gezielter ukrainischer Angriffe sein, welche die russische Gruppierung am Westufer ihre wichtigsten Nachschubwege gekostet haben.
Der ukrainische Nachrichtendienst machte noch einen weiteren Grund geltend: So sollen mitunter die «am besten ausgebildeten und fähigsten russischen Truppen» westlich des Dnipro stationiert gewesen sein. Darunter Elitetruppen der Luftstreitkräfte und der Marine-Infanterie.
Ukraine’s Defense Intelligence Directorate says“the most trained and most capable Russian units are currently in Kherson. A large share of them are from airborne troops of the Russian Federation, Russian special operation forces and the naval infantry” https://t.co/DdczS9a92X
— Dara Massicot (@MassDara) November 4, 2022
Für die Russen bedeutet der Rückzug, dass es in absehbarer Zeit unmöglich sein wird, gemäss Plan weiter in Richtung Westen vorzudringen – in Richtung Mykolajiw und Odessa. Somit wird Russland wahrscheinlich sein strategisches Ziel verwehrt, eine Landbrücke bis zur Hafenstadt Odessa aufzubauen.
Für die Ukrainer stellt sich die Frage, auf wie viel Widerstand sie bei der Rückeroberung des Südens stossen wird. Satellitenbilder zeigen, dass die russischen Streitkräfte östlich des Dnipro drei grosse Verteidigungslinien aufbauen, mit Schützengräben und Bunkern.
The Russians are currently building three lines of trenches and bunkers on the right side of the Dnieper. These defensive positions use natural and artificial barriers such as the Dnieper River and the numerous canals in the Kherson region.
— Benjamin Pittet (@COUPSURE) November 5, 2022
2/ pic.twitter.com/aHyhTR9J1b
Wie das ISW in seiner Lagebeurteilung schreibt, werden die ukrainischen Streitkräfte versuchen, den russischen Rückzug so weit wie möglich zu stören. Von entscheidender Bedeutung könnte dabei die Sicherung des Wasserkraftwerks Kakhowka flussaufwärts von Cherson sein.
Russische Beamte und Militärblogger behaupten seit Wochen, dass Kiew beabsichtige, den Damm des Wasserkraftwerks angreifen zu wollen. Westliche Akteure sehen darin eine Aktion unter falscher Flagge. Mit der Zerstörung des Damms könnte die bereits angeschlagene Energieversorgung der Ukraine weiter beeinträchtigt werden.
Vorerst kontrolliert Russland weiterhin einen grossen Teil der Oblast Cherson. Der Rückzug des gesamten russischen Kontingents über den Fluss Dnipro werde einige Zeit in Anspruch nehmen, schreibt das ISW. Die ukrainischen Streitkräfte haben in den letzten Monaten jedoch immer wieder gezeigt, dass sie in der Lage sind, flexibel und kreativ Land zurückzugewinnen.
Putins' Brücke steht da auch noch rum und stört....