Zwei gepanzerte Fahrzeuge der russischen Armee nähern sich einer Waldschneise. Nach kurzem Zögern prescht der Schützenpanzer als Erster vor und fährt auf eine Mine auf. Die Wolke der Detonation ist kaum verflogen, da versucht es auch der Kampfpanzer – erstaunlicherweise an genau derselben Stelle – mit demselben Resultat.
Die Szene wurde von einer ukrainischen Aufklärungsdrohne bei Wuhledar aufgezeichnet. Das Video davon macht nun auf Social Media die Runde, zusammen mit diversen anderen. Sie zeigen alle dasselbe: Rätselhafte und hoffnungslose Angriffsbemühungen der russischen Armee. Der Versuch, die Kleinstadt einzunehmen, soll Russland bisher ein gesamtes Bataillon inklusive Führungsstab und über 30 gepanzerte Fahrzeuge gekostet haben.
Ist das nun der Beginn der von zahlreichen Experten angekündigten russischen Winteroffensive mit bis zu 2000 Panzern und 300'000 Infanteristen?
Putin is said to be assembling 2000 tanks,4,000 armoured vehicles, 800 rocket-launch systems, 400 fighter jets & 300,000 troops for ‘huge invasion’ in 10 days. As Ukrainians fight for their very existence Zelensky must be given his “wings for freedom” https://t.co/86JuW2rNpV
— Lord (David) Alton (@DavidAltonHL) February 10, 2023
Irrtum, sagt Philipps P. O’Brien. Die angekündigte Winteroffensive sei reiner Alarmismus. Sie werde so nie stattfinden. O’Brien ist Historiker und Professor für Kriegswissenschaften an der schottischen St.-Andrews-Universität. In einem lesenswerten Essay begründet er sein Statement anhand von vier Indizien:
Als sich Russland vor einem Jahr auf den Überfall auf die Ukraine vorbereitete, kursierte ein Katalog von Satellitenbildern der Truppenmassierungen an der Grenze. Die Kriegsvorbereitungen konnten beinahe live mitverfolgt werden. Solche Aufnahmen der angeblich bis zu 2000 Panzer und 300’000 Soldaten, welche für die Offensive bereitstehen sollen, existieren nicht. Nicht einmal eine Spur davon.
Ausserdem steht zur Debatte, ob Russland überhaupt noch über diese Mengen von Kriegsgerät verfügt. Unlängst berichteten US-Quellen, dass Russland möglicherweise die Hälfte seines gesamten Panzerarsenals in der Ukraine verlor.
Eine Armee muss versorgt werden – mit Munition, mit Treibstoff, mit Nahrungsmitteln, mit frischen Kräften. Russland hat dabei chronisch Probleme. Dies zeigte sich beim gescheiterten Konvoi auf Kiew eindrücklich – und nun sind die Voraussetzungen noch schwieriger geworden.
Die ukrainische Armee kann seit ein paar Monaten auf hochpräzise HIMARS zurückgreifen. Kaum in Betrieb, zerstörte sie damit diverse russische Munitionsdepots. Russland musste reagieren und verlegte die kapitalen Lager 100 Kilometer hinter die Front – ausser Reichweite der HIMARS.
Die grosse Distanz zur Front bereitet den Invasoren nun aber Schwierigkeiten bei der Versorgung der eigenen Truppen. Die Belieferung mit Lastwagen ist unzuverlässig, es kursieren Videos mit verzweifelten Wagner-Söldnern, die sich in Stellungen bei Bachmut über Munitionsmangel beklagen.
Hey @christogrozev, here's your video [ai] translated from Russian as requested by @hakkerronny. https://t.co/HwHr2b6TX3
— VidTranslator - targum.video AI bot (@vidtranslator) December 26, 2022
Indizien, dass Russland diese Schwächen ausbügeln und gar eine wesentlich grössere Armee erfolgreich versorgen kann, gibt es nicht. Unter diesen Umständen einen Grossangriff zu starten, ist laut O’Brien illusorisch.
Ein erfolgreicher Angriff erfolgt gleichzeitig mit Boden- und Lufteinheiten aus verschiedenen Stellungen heraus. Seit Beginn des Krieges ist Russland noch immer den Beweis schuldig, ein solch koordiniertes Manöver zustande zu bringen. Die aktuellen Angriffsbemühungen, wie im Eingang erklärt, sind Indizien dafür, wie planlos das russische Vorgehen ist. Die Angriffe wirken unkoordiniert, unüberlegt und menschenverachtend den eigenen Soldaten gegenüber. Ausserdem hat Russland keine Lufthoheit über der Ukraine.
Bei den zerschlagenen Truppen bei Wuhledar handelte es sich nicht um untrainierte Sträflinge, sondern um Eliteeinheiten der 40. und 155. Marineinfanterie. Nicht nur westliche Beobachter reiben sich darob verdutzt die Augen. Igor Girkin, der russische Nationalist, geht mit der eigenen Militärführung auf Telegram scharf ins Gericht: «Nur absolute Dummköpfe greifen immer wieder von vorn an», analysiert er frustriert. Der Kriegsbefürworter glaubt gar, die Offensive bei Wuhledar sei die letzte ihrer Art gewesen. Zu mehr sei Russland nicht fähig.
Die Ukraine selbst befeuerte in den vergangenen Wochen die Theorie der Grossoffensive: «Wir sehen, mit wie vielen Truppen Russland an der Grenze wartet», verkündete Verteidigungsminister Resnikow vor wenigen Tagen – also just in dem Moment, als sich Präsident Selenskyj auf Europatournee befand, um Frankreich und England um moderne Kampfflugzeuge zu bitten. Die akute Bedrohungslage diente als Verhandlungsbasis.
Sicher korrekt ist der erste Teil von Resnikows Aussage: «Wir sehen ...» Die ukrainische Heeresführung hat Zugriff auf die Bilder von über 200 kommerziellen amerikanischen Satelliten. Darunter befinden sich auch Radarsatelliten, die bei jeder Tageszeit und Witterung Informationen liefern können. Auch die EU übermittelt klassifiziertes Fotomaterial nach Kiew.
Die Verteidiger wissen demnach ziemlich genau, wo wie viele russische Truppen bereitstehen – und können entsprechend reagieren.
Den Sieg der Ukraine will O’Brien aber trotzdem nicht verschreien. Er glaubt, auch die Ukraine habe Schwierigkeiten. Die grösste sei der Munitionsmangel.