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US-Lehrer entging nur knapp dem russischen Geheimdienst in Cherson

Ukraine: US-Lehrer entging nur knapp dem russischen Geheimdienst in Cherson

Mit seinem US-Pass wollte Timothy Morales nicht in eine russische Kontrolle geraten. Jetzt berichtet er von seinem monatelangen Versteckspiel im besetzten Cherson.
23.11.2022, 14:1323.11.2022, 15:16
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t-online

Sechs Monate lang hatte sich Timothy Morales schon in Cherson versteckt gehalten, als plötzlich ein Suchtrupp des russischen Geheimdienstes FSB vor seiner Tür stand. Sein Russisch würde nicht reichen, um als Einheimischer durchzugehen, und so erzählte der Englischlehrer aus Oklahoma dem FSB-Offizier, er sei Ire, heisse Timothy Joseph und habe seinen Pass verloren. Eine Nachbarin bestätigte den Agenten, dass Morales unverdächtig sei, und so kam der 56-Jährige mit dem Schrecken davon.

«Aber dieses Erlebnis hat meine Haltung noch mal verändert», wie Morales im befreiten Cherson jetzt einem Reporter der «New York Times» erzählte. «Davor war ich schon vorsichtig, aber danach nur noch paranoid.» Die Befragung durch den berüchtigten FSB, dem auch Kremlchef Putin entstiegen ist, sei der Tiefpunkt seiner achtmonatigen «Tortur» gewesen, wie Morales sagt. Er sei nur entkommen, weil die russischen Agenten «nicht die schlauesten Leute» gewesen seien.

Angehörige brachten Lebensmittel

In England geboren, hatte Morales mehrere Jahre lang in den USA gelebt, bevor er der Liebe wegen nach Cherson ging und dort eine Sprachschule gründete. Seine Ex-Frau und seine zehnjährige Tochter schafften es noch raus aus der Stadt, nachdem die Russen sie Anfang März übernommen hatten.

Federal security service. Russian FSB officer in assault gear
Der russische Geheimdienst FSB wird als Pendant zur CIA gehandelt.Bild: iStockphoto

Doch Morales selbst wollte es nicht riskieren, mit seinem US-Pass in eine russische Strassenkontrolle zu geraten. Zu gross war seine Furcht, zu einer «Trophäe» des Kreml zu werden, der gefangene US-Amerikaner gerne öffentlich vorführt und als Druckmittel im diplomatischen Tauziehen missbraucht, wie das Schicksal der Basketballspielerin Brittney Griner zeigt.

Nur einmal in den acht Monaten der Besatzung versuchte Morales zu entkommen, über die Autobahn Richtung Norden. Doch schon von Weitem sah er russische Panzer auf die Strasse feuern und drehte um. Sein Leben in diesen Monaten beschränkte sich auf seine Wohnung, die seiner Ex-Frau und den kurzen Fussmarsch dazwischen. Angehörige seiner Ex-Frau versorgten ihn mit Lebensmitteln, auch einer Verkäuferin im Lebensmittelladen um die Ecke konnte sich Morales anvertrauen – sie stand auf Seiten der Ukrainer und würde ihn nicht verraten.

«Da wusste ich, die Russen sind weg.»

Auch seine Nachbarn hielten still, und doch hatte Morales immer Angst, ihnen auf der Strasse zu begegnen – ein überschwänglicher Gruss oder eine unbedachte Äusserung hätten ihn schon in Gefahr bringen können. So grub sich Morales die meiste Zeit zu Hause ein, ging höchstens in den Hof mit den Kirsch- und Walnussbäumen, während auf der Strasse immer wieder russische Soldaten patrouillierten. Die Zeit vertrieb er sich mit Hunderten Filmen, die er noch auf dem Laptop hatte und über die Internetverbindung seines Nachbarn konnte er sogar weiter Englisch unterrichten: «Das hat mich bei Verstand gehalten», sagt Morales.

In den letzten Wochen der Besatzung bemerkte Morales dann immer mehr Auflösungserscheinungen bei der russischen Armee, sah zerzauste Soldaten, die eher in gestohlenen Luxusautos fuhren als in Armeefahrzeugen. «Mit der Zeit sahen sie immer schäbiger und irgendwie zusammengewürfelt aus», erzählt Morales.

Als die gestohlenen BMW und Mercedes aus den Strassen verschwanden, von den Russen auf Fähren über den Dnipro geschafft, schöpfte Morales neue Hoffnung. Am 11. November, dem Tag der Befreiung, sah Morales ein Auto mit ukrainischer Flagge auf der Strasse vorbeifahren: «Da wusste ich, die Russen sind weg.»

Wie viele andere Überlebende der Besatzung suchte auch Morales den zentralen Platz der Stadt auf, um die Befreier zu begrüssen und Lebensmittel zu besorgen. Die Versorgungslage in der Stadt, die vor dem Krieg fast 300'000 Einwohner hatte, ist noch immer prekär; die Versorgung mit Strom, Wasser und Wärme ist ausgefallen. Doch das ist nicht Grund, weshalb Morales die Stadt verlassen will. «Ich muss nur einfach etwas Raum gewinnen zu dem, was hier geschehen ist.» (cpf)

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