Internationale Beobachter in dem von Russland besetzten ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja haben bislang keine Anzeichen für Verminung durch die Besatzer gesichtet. Das Team der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), das dauerhaft in dem AKW stationiert ist, habe jedoch zu einigen Bereichen der Anlage noch keinen Zugang erhalten, teilte IAEA-Chef Rafael Grossi am Freitagabend in Wien mit. Teile der Turbinenhallen und des Kühlsystems müssten noch inspiziert werden, hiess es in seinem Bericht.
Vergangene Woche hatte der ukrainische Militärgeheimdienst SBU erklärt, Russland habe das AKW vermint und plane einen Terroranschlag dort. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte vor einer solchen Attacke gewarnt. Moskau weist solche Vorwürfe zurück und behauptet wiederum, die Ukraine plane einen Anschlag, um eine atomare Katastrophe auszulösen.
«Wir nehmen all diese Berichte sehr ernst», betonte Grossi zu den Vorwürfen der Ukraine. Es sei der IAEA «bekannt», dass früher Minen im Umkreis des AKW und an bestimmten Stellen in der Anlage platziert worden seien. Welche Informationen der IAEA dazu vorliegen, führte Grossi am Freitag nicht aus.
Russische Truppen haben kurz nach Beginn des Kriegs vor 16 Monaten schnell grosse Teile der Südukraine besetzt, darunter auch wichtige Infrastrukturobjekte wie das AKW Saporischschja. Die Lage um das Kernkraftwerk, das nahe der Front liegt und mehrfach unter Beschuss stand, weckte immer wieder Sorge vor einer Atomkatastrophe.
Selenskyj hat indes im Kampf gegen die russische Invasion die Stärke der eigenen Streitkräfte hervorgehoben. «Die Ukraine und die Ukrainer sind viel stärker als irgendjemand das von uns erwartet, manchmal stärker als wir das von uns selbst gedacht haben», sagte Selenskyj am Freitag in seiner abendlichen Videobotschaft. Das Land habe im Kampf gegen die russischen Invasoren der ganzen Welt die Stärke der Ukraine gezeigt. Selenskyj erinnerte in der Rede an die Wiedereroberung der Schlangeninsel im Schwarzen Meer vor einem Jahr. «Das war einer unserer wichtigsten Siege.» Damit sei nicht nur die Kontrolle über die Insel, sondern über einen bedeutenden Teil des Schwarzen Meeres zurückerlangt worden.
Selenskyj sagte erneut, dass die Ukraine mit ihrer Gegenoffensive vorankomme. «Wir haben Fortschritte gemacht in allen Richtungen mit unseren aktiven Aktionen.» Die Stärkung der Artillerie im Süden und Osten habe «offensichtlich Priorität», sagte Selenskyj. Er dankte ausserdem in seiner Rede Dänemark für ein neues Verteidigungspaket, darunter Artillerie, Flugabwehrraketen und Ausrüstung zur Minenräumung. Die Ukraine verteidigt sich seit dem 24. Februar 2022 gegen die russische Invasion mit westlicher Hilfe.
Nach Ansicht des ukrainischen Aussenministers Dmytro Kuleba kämpft Kiew gegen langlebige Vorurteile und Missverständnisse über die Folgen eines Nato-Beitritts seines Landes. Eine Nato-Mitgliedschaft werde nicht zu einem weiteren oder grösseren Krieg mit Russland führen, sagte Kuleba in Kiew in einem Interview von «Bild», «Welt» und «Politico». Vielmehr sei ein Nato-Beitritt «die Strasse zum Frieden» - denn Russland werde es nicht wagen, eine Ukraine, die Nato-Mitglied sei, erneut anzugreifen.
Die Ukraine werde Deutschland und andere westliche Nato-Staaten bei der Verteidigung der Ostflanke dann entlasten, versprach Kuleba: «Wir werden diese Last auf unsere Schultern nehmen.»
Kuleba zufolge erwartet die Ukraine keine Aufnahme in die Nato während des Krieges. «Aber nach dem Krieg wäre es selbstmörderisch für Europa, die Ukraine nicht als Nato-Mitglied zu akzeptieren.» Eine Ukraine ausserhalb der Nato würde bedeuten, dass Krieg weiter eine Option sei. Der einzige Weg, die Tür für eine russische Aggression gegen Europa und den europäisch-atlantischen Raum insgesamt zu schliessen, bestehe in der Aufnahme der Ukraine in die Nato, sagte er.
Mit Blick auf den anstehenden Nato-Gipfel in Litauen in rund zwei Wochen warnte er die Bundesregierung davor, den Weg seines Landes in die Allianz zu behindern. Er rief Berlin dazu auf, nicht den Fehler zu wiederholen, «den Kanzlerin Merkel 2008 in Bukarest gemacht hat, als sie heftigen Widerstand gegen jeden Fortschritt für die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine leistete.» Die damalige Entscheidung habe die Tür aufgemacht für Putins Einmarsch in Georgien und schliesslich die illegale Annexion der Krim.
Beim Gipfel 2008 hatten die Nato-Staaten der Ukraine eine Aufnahme in Aussicht gestellt, dann aber aus Rücksicht auf Russland einen Rückzieher gemacht. Angela Merkel und Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy blockten Forderungen anderer Nato-Partner nach einem raschen Beitritt ab.
Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez reist zur Übernahme der turnusgemässen EU-Ratspräsidentschaft in die ukrainische Hauptstadt Kiew. Damit will er die fortdauernde Unterstützung der Europäischen Union für das von Russland angegriffene Land unterstreichen. «Der Krieg in der Ukraine wird eine der obersten Prioritäten unserer Präsidentschaft sein», sagte Sánchez nach der Teilnahme am EU-Gipfel in Brüssel. (sda/dpa)