Es sind Menschenmassen, wie sie Odessa schon lange nicht mehr gesehen hat. Am Sonntag, auf den der ukrainische Nationalfeiertag fiel, stürzten sich die Bewohner der Hafenstadt und viele Touristen gleichermassen in ihre besten Kleider und promenierten durch die Altstadt.
Trotz der Gefahr von Raketen- und Drohnenangriffen genossen Abertausende den Sommer und Odessas Strände. Es waren Szenen, wie man sie von der Hochsaison im italienischen Rimini erwarten würde, aber nicht von einer Stadt mitten im Krieg.
«Während der Verhandlungen zwischen Putin und Trump in Alaska hatten wir Angst, dass unser Land ausverkauft wird», erzählt Ruslan, ein Angehöriger der ukrainischen Kriegsmarine. «Als die Europäer in Washington aber für einmal geeint Trump gegenüber traten, verflog der Pessimismus etwas.»
Dennoch sei die Gefahr nicht gebannt, dass der mäandrierende US-Präsident der Ukraine eines Tages nicht doch noch ganz den Stecker ziehen werde, meint Ruslan. Dies ist eine weit verbreitete Befürchtung im ganzen Land, nicht nur in Odessa. Viele Ukrainer glauben deshalb, dass am Ende nur eigene Anstrengungen Moskau zum Einlenken bringen können.
Mit eigenen Anstrengungen sind zum Beispiel die Investitionen in die ukrainische Rüstungsindustrie gemeint – zum Teil mit Hilfe westlicher Staaten. Ein Resultat sind nicht nur die vielen weitreichenden Angriffsdrohnen, die derzeit Anlagen der russischen Erdöl- und Erdgaswirtschaft verwüsten, sondern auch der Marschflugkörper «Flamingo», der einen riesigen Gefechtskopf angeblich über rund 3000 Kilometer transportieren kann. Damit wären auch Ziele weit hinter dem Ural erreichbar.
Während Investitionen in Waffenfabriken äusserlich kaum wahrnehmbar sind, sieht man in den grossen ukrainischen Städten unzählige neue Geschäfte, Restaurants und Bars. Die Ukrainer investieren auch privat, nicht zuletzt in Bauprojekte, die nach Kriegsbeginn lange brach lagen und nun plötzlich fertig gestellt werden.
Dass dies auch im von Drohnenangriffen besonders geplagten Odessa geschieht, erstaunt einigermassen. Zwar ist die Front im Donbass weit weg, doch die nächsten russisch kontrollierten Gebiete liegen nur etwa 60 Kilometer entfernt.
Nach den gescheiterten Friedensgesprächen in Alaska und Washington hätte man eigentlich erwartet, dass der Kreml die Menschen gerade am ukrainischen Unabhängigkeitstag erneut in Angst und Schrecken versetzen wird. Doch es kam anders. Diesmal waren es die Ukrainer, die mit unzähligen Drohnen Raffinerien und eine wichtige petrochemische Verarbeitungsanlage an der Ostsee angriffen, von der aus ein erheblicher Teil der russischen Gas- und Treibstoffexporte Richtung Asien abgewickelt wird. Mit den Erdöl- und Erdgasanlagen attackierten die Ukrainer Putins Achillesferse, ohne die der Diktator seinen Krieg nicht finanzieren kann.
Auch am wichtigsten Frontabschnitt im Donbass sieht es für die Ukrainer offenbar weniger schlecht aus als noch vor zwei Wochen. Kurz vor dem Gipfel zwischen Trump und Putin in Alaska gelang es kleinen Gruppen russischer Soldaten, die Front bei der seit langem umkämpften Stadt Pokrowsk zu durchbrechen und innerhalb von vier Tagen um gut 15 Kilometer vorzustossen. Der Angriff fand in einem Gebiet statt, das für die Verteidigung der restlichen ukrainisch gehaltenen Städte im Oblast Donezk entscheidend ist.
Auf diese gefährliche Blamage reagierte der ukrainische Generalstab allerdings schnell. Er entsandte Reserven und Elitetruppen, darunter das erste Asow-Korps, und diese trennten den Keil, den die Russen in die ukrainische Front getrieben hatten, innert kürzester Zeit in zwei Teile. Was aus den dabei vermutlich eingeschlossenen Angreifern wurde, ist bis heute unklar. In der Folge leiteten die Ukrainer verschiedene lokale Gegenangriffe ein.
Ein Ziel war dabei auch die Wurzel des inzwischen zerschlagenen Sporns, also jene Gebiete, von denen aus mehrere russische Brigaden Pokrowsk im Norden zu umzingeln versuchen. Falls die Ukrainer ihre dort gemeldeten Erfolge fortsetzen können, drohen die erwähnten Brigaden eingekesselt zu werden. Allerdings müssten die Ukrainer dafür nochmals um etwa acht Kilometer vorstossen, eine verhältnismässig grosse Distanz.
Warum konnten die Russen ihren ursprünglichen Vorstoss um 15 Kilometer nach Norden nicht für einen vernichtenden Schlag ausnützen? Es war nicht nur die schnelle ukrainische Reaktion und die verhältnismässig kleine Zahl der durchgebrochenen Angreifer. Vielmehr haben die Russen in den letzten Monaten immer weniger Panzer und gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt, sodass ihre Infanterie häufig ganz auf sich allein gestellt ist. Ohne Fahrzeuge schaffen es Fusssoldaten aber kaum, einen Durchbruch zu einem tiefen Stoss ins Hinterland auszuweiten und die gegnerische Front von hinten aufzurollen.
Dass die Russen bewusst nur noch wenige Panzer einsetzen, erklärt sich nicht nur damit, dass sie bei gepanzerten Fahrzeugen immense Verluste einstecken mussten und schlichtweg nicht mehr über genügend Material verfügen. Der klassische Kampfpanzer hat durch das Aufklärungsdrohnen geschuldete gläserne Gefechtsfeld und die Schwärme von Angriffsdrohnen an Durchschlagskraft verloren. Umgekehrt ist auf sich gestellte Infanterie schlichtweg zu wenig mobil, um nach einem Durchbruch grosse Gebiete in kurzer Zeit zu erobern, zumal Drohnen heute so zahlreich sind, dass sie auch einzelne Kämpfer jagen und töten.
Zurück nach Odessa, wo die Zivilbevölkerung und einzelne Soldaten auf Fronturlaub den lauen Abend geniessen – zum Beispiel an einem Open-Air-Konzert ukrainischer Band im Stadtpark. Oder auf der berühmten Potemkinschen Treppe, wo eine junge Frau von einer Gitarristin begleitet wird. Sie singt auf Ukrainisch: «Ich lebe, als ob ich fliegen würde.» Die Zuschauer klatschen, und im Hintergrund tanzt ein Paar zu den Klängen. Es ist bloss eine kurze Pause zwischen russischen Drohnenangriffen, das wissen die Menschen. Aber gerade darum geniessen sie den friedlichen Moment doppelt.
Man muss die Ukraine nicht starkreden: Sie ist es bereits. Die in den letzten Jahren aufgebauten Kapazitäten tragen nun erste Früchte. Die von europäischen Rüstungsfirmen mit aufgebauten Waffenfabriken fahren ihre Kapazitäten hoch. Der Flamingo ist nur ein Produkt von vielen.
Russland hat nun sein Vietnam.
Russia, go home.