Kansas. Ein Rechteck in der Mitte der Amerikakarte, rechts oben angefressen vom Missouri River. Drei Millionen Einwohner auf 21'500 Quadratkilometern, ein Drittel davon in den suburbanen Auswucherungen von Kansas City, die sich vom Fluss her immer weiter nach Westen fressen, ein uniformes Development nach dem anderen, von Mall zu Mall. Früher Prärie, Indianerland, dann Getreidekammer und Industrie, in Wichita ist Boeing gross. Heute eine Überflugfläche auf dem langen Weg von Küste zu Küste. Die amerikanische Musik spielt nicht in Kansas.
Und politisch uninteressant. Kansas ist ein Red State, wählt zuverlässig rechts. Der letzte Demokrat, der hier eine Präsidentschaftswahl gewann, war Lyndon Johnson 1964. Donald Trump holte vor vier Jahren 57 Prozent, dass er in Kansas wiedergewählt wird, steht ausser Frage.
Aber ein guter Ort, um herauszufinden, was die Trump-Wählerschaft antreibt. Es sind ja nicht alles «verachtenswerte» Rassisten, Xenophobe und Misogynisten, wie die ungeschickte Frau Clinton vor vier Jahren behauptete. In unserem Bekanntenkreis gibt es eine Reihe von intelligenten, anständigen, freundlichen, teilweise sogar weltoffenen Trump-Wählern. Wie kommt es, dass solche Leute eine so ungehobelte, unberechenbare und verlogene Figur ins wichtigste Staatsamt wählen? Einen Mann, der offensichtlich nicht gewillt ist, den Unterschied zu machen zwischen Mein und Dein, wes des Staates und wes dem Privatmann ist?
Wir konzentrieren uns auf die fundamentalistischen Christen – die «Evangelicals», welche die Bibel (respektive eine kanonisierte Übersetzung) wortwörtlich auslegen und als «Wiedergeborene» die Erbpacht auf die einzig richtige Lebensführung beanspruchen. Vier von fünf weissen Evangelicals (es gibt schwarze und hispanische, aber die ticken politisch anders) wählen republikanisch. Sie bilden mindestens die Hälfte von Trumps-Wählerschaft. Sie sind die republikanische Fusstruppe, Trumps Infanterie.
Für einen Einschätzung genügt das Autoradio, FM. Über alle Kanäle ein endloser Strom aus Dumpfpop, rechter Demagogie und salbungsvoller Christlichkeit. Aus dem Schleim heraus ragen das National Public Radio, halt etwas bieder, und eine Station mit klassischer Mainstream-Musik, die nach einer Stunde auch auf die Nerven geht. Die Christlichen sind nicht gehässig, aber erbarmungslos. Jede Stunde kommt «Recht auf Leben» – will heissen: das Abtreibungsverbot – aufs Tapet. Immer wieder die Gefährdung der «Religionsfreiheit». Beständig die Vorstellung eines Herrgotts, der eh alle Geschicke lenkt.
Kismet. «Sich Sorgen zu machen, ist eine Form von Atheismus», sagt ein Talker.
Am 16. Januar ist Religious Freedom Day, prallvoll mit Gratis-Propaganda für Präsident Trump. Er will die Obama-Regeln über die Vergabe öffentlicher Aufträge weiter lockern und die kirchlichen Organisationen als Mitbewerber im Schul- und Sozialwesen zulassen. Einer seiner Beamten versichert dem Befrager, ein scharfes Auge auf «Diskriminierung» zu richten. Was Diskriminierung ausmacht und was nicht, wäre einen Streit wert, aber andere Anschauungen kommen in diesen Radiosendungen nicht zur Sprache.
Ein Teil der komplizierten amerikanischen Wirklichkeit wird ausgeblendet. Das krasse Beispiel liefert ein Talkgast zum Thema «Sicherheit» (Geiselnahmen und Massenmorde). Er behauptet, allen Ernstes, vor 1963 habe es in den Vereinigten Staaten «keine Massenmorde gegeben, nicht einen einzigen». Dies während wir auf der Quivira Road Richtung Lenexa unterwegs sind, nahe Shawnee Mission, alles indianische Namen in einem Staat, der auch seine Bezirke so benennt: Cherokee, Kiowa, Comanche, Cheyenne. Die Nachfahren der weggenozidierten Indianervölker könnten hier Einspruch erheben.
Mediale Monokultur ist ein Teil der Erklärung. Es ist verständlich: Bezöge einer seine gesamte Information aus der «Weltwoche» hätte er eine andere Sicht auf die Welt als einer, der sich ausschliesslich auf die «Wochenzeitung» stützt. Solche Leute gibt es, aber nicht alle Evangelicals gehören dazu. «Wir sind sehr verschieden», sagt Owen Strachan, ein Theologe und national aktiver Kommentator in Prairie Village in der Grossagglomeration Kansas City. «Nicht alle Evangelicals sind gleich», sagt Rick Holland, Pastor daselbst.
Der Sonntagsgottesdienst in Hollands Mission Road Bible Church beginnt mit Gesang. «See the true and better Adam come to save the hell-bound man.» Drei-, vierhundert Leute füllen die Halle, alle weiss, viele Junge und Kinder. Die Inbrunst ist da, aber die Kapelle hat rhythmische Probleme. Pfarrer Rick predigt das Markusevangelium, die Stelle, wo der Heiland den Blinden heilt. Minutiös pflückt er aus dem Abschnitt eine «Bekehrungserfahrung» hin zur «vollständigen Ergebenheit» inklusive «evangelisierende Passion» heraus.
Missionieren gehört dazu, keine Seele ist verloren, der rechte Christenmensch soll die Ungläubigen zum jenseitigen Glück bekehren. Die Bible Church gehört zu einem Netzwerk, das in der weiten Welt «Pflanzkirchen» finanziert. Afrika, Lateinamerika, London, Messina. Gemeindemitglied Owen Strachan geht in wenigen Tagen nach Puerto Rico, dann nach Irland, Vorsänger Aaron sollte eigentlich in Messina sein, aber sein Flug wurde wegen Wetterproblemen verschoben: «Gott hatte andere Pläne.» Inschallah.
Wie vereinbart ein christlicher Hundertfünzigprozenter – ein Stündeler, wie wir im Bernbiet sagen würden – seine Lebensmaximen mit der Wahl eines Trump? Vor zwanzig Jahren, als der Demokrat Bill Clinton sich mit ehelicher Untreue (Gebot #6) in einen Meineid (Gebot #8) verstrickte, ging das gar nicht. Die Evangelischen und die Rechtsextremen konnten nicht genug kriegen von Überlegungen zum präsidentiellen «Charakter», Moral, Aufrichtigkeit etc. an der Staatsspitze. Pfarrer Holland bleibt im Allgemeinen: «Ich bete für alle», sagt er nach der Predigt. «Ich habe auch für Obama und Clinton gebetet.» Trump? «Präsidenten kommen und gehen, wir predigen das Gotteswort, wir folgen dem wahren König.»
Theologe Owen Strachan, ein artikulierter Mittdreissiger mit blitzblauen Augen, grosser Kenner der Reformationsgeschichte und ihrer Schweizer Aspekte, war 2016 ein harter öffentlicher Kritiker des Kandidaten Trump. Er warf den Glaubensgenossen Heuchelei vor, wenn sie einerseits die «Familienwerte» predigten und anderseits einem «enthusiastischen Anhänger der sexuellen Revolution» die Stimme gaben. «Die evangelische Bewegung in Amerika steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise.» Das war 2016.
Nicht mehr. Heute gehört Owen Strachan zu denjenigen, die «mit Vorsicht für Trump» einstehen. Das liegt zum einen am Faktor Abtreibung. Seit Jahrzehnten kämpfen die Evangelischen gegen den Gerichtsentscheid im Fall Roe v. Wade, der 1973 Abtreibungen straffrei machte. Ein immer konservativerer Oberster Gerichtshof hat die Freiheit mehr und mehr eingegrenzt, und nach zwei Trump-Ernennungen könnte nun eine Mehrheit das Urteil kippen. «Viele Evangelische haben Trump nicht getraut, aber sie haben gesehen, dass er zwei starke Pro-Lifer nominiert hat», sagt Owen Strachan. «Bei den Demokraten sind alle für Abtreibungen bis zum Zeitpunkt der Geburt.» Aber was ist mit dem Charakter, spielt er keine Rolle mehr? «Doch. Wir haben nicht, was wir erhoffen und wofür wir beten. Wir müssen bescheiden sein, aber die Wahl ist klar. Wenn wir Trump nicht unterstützen, geraten wir in eine gefährliche Lage. Der Hammer wird auf uns niederschlagen.»
Der Hammer? Gemeint ist Sex – die «neue sexuelle Orthodoxie», derzufolge das Weibliche und das Männliche in jedem Menschen gemischt und die geschlechtliche Identität flexibel oder selbstgewählt ist. Das Kürzel hiess bis vor kurzem LGBT, jetzt LGBTQ, bald vielleicht ein paar Konsonanten mehr, und es gehört mittlerweile zum Standardvokabular jedes Demokraten, der gewählt werden will. «Die vorherrschende Orthodoxie», sagt Strachan. «Wer an einer Universität, einer Schule oder sogar in einem Unternehmen dagegen auftritt, gefährdet seine Position.»
Rechts heisst die Devise Religious Freedom – «Religionsfreiheit»: Die Diskriminierungsverbote, die sich in den USA mehr und mehr durchsetzen, werden in der evangelischen Weltsicht zum Hindernis, die eigene Religion auszuleben – auch mit ökonomischen Folgen. Strachan zitiert Fälle: Der Bäcker in Colorado, der sich aus religiösen Gründen weigerte, die Torte für eine Schwulenhochzeit zu backen. Die evangelische Blumenhändlerin in Oregon, die einem schwulen Hochzeitspaar die Türe wies, wegen Diskriminierung verklagt und zu einer Busse verurteilt wurde, die sie in den Ruin getrieben habe. Das verstehe der gewöhnliche Amerikaner nicht, sagt Strachan. Genauso wenig wie er es nicht verstehen würde, wenn man dem Nachfahren eines Holocaust-Opfers verböte, die Produktion von T-Shirts mit dem Hakenkreuz zu verweigern.
Strachan hat einen Punkt, dem gesunden Menschenverstand scheint es in der Tat irr, ein Blumengeschäft mit einer existenzgefährenden Busse zu verschlagen, nur weil es sich weigert, ein Bouquet zu binden. Verständlich ist auch, dass die Evangelischen sich erkenntlich zeigen, wenn Trump ihnen gibt, was sie wollen – rechte Richter. Aber was ist mit dem Materiellen, den Brot-und-Butter-Themen? Zuerst komme das Fressen, dann die Moral, schrieb Bertolt Brecht, und wirtschaftlich gesehen sind die Trump-Jahre wohl gute Jahre, aber bei weitem nicht für alle gleich gut. Die evangelischen Weissen sind nicht die Besserverdienenden, sondern eher die kleinen Leute, die in der Gesellschaft unten anstehen. Die Börse spielt sich nicht in ihrer Welt ab, sie leben vom Arbeiten. Die Einkommensunterschiede sind nicht kleiner geworden.
Der Trump-Boom hat in der Mitte des Landes, in Kansas und anderswo, die geringsten Arbeitsplatzzuwächse bewirkt, wie die «New York Times» kürzlich berichtete. Die Trump-Zölle schaden den Industrien und den Bauern, die exportieren. Die Bauern in Kansas können weniger Getreide nach China liefern. Ein Thema? «Nicht explizit», sagt Rui Xu, ein junger demokratischer Kansas-Abgeordneter aus dem wohlhabenden Mission Hills, Mitglied des Agrarausschusses des Parlaments. «Ich höre Bemerkungen. Es ist klar, dass die Farmer leiden, aber sie bleiben loyal zur Republikanischen Partei.»
Lokale Experten geben ihm recht. «Parteiloyalität ist eine verdammt harte Droge», meint der Politologe Patrick Miller von der Kansas State University. «Republikaner, die sagen, dass die Zölle ihnen schaden, unterstützen Trump im gleichen Ausmass wie die anderen.» Das wirtschaftliche Eigeninteresse, das «Pocketbook», ist zwar ein Faktor beim politischen Entscheid, aber nicht der einzige. Miller bescheinigt den Amerikanern, was der Marxist Brecht «falsches Bewusstsein» nennen würde: «Amerikaner können sich ausserordentlich schlecht in der Klassenstruktur einordnen, die meisten sehen sich als Mittelklasse.» Das Klassenbewusstsein funktioniere umgekehrt wie in anderen westlichen Demokratien: «Je ärmer du in Amerika bist, desto eher bist du dafür, die Steuern zu senken.» Das ist das republikanische Mantra: Steuern senken, den Staat klein machen.
In Kansas hat das lange zugunsten der Republikaner funktioniert. Der radikale Gouverneur Sam Brownback rammte in den 2010er Jahren ein Steuersenkungspaket nach dem anderen durch das Bundesstaatsparlament, begleitet von einschneidenden Ausgabenkürzungen. Wer sich als selbständig deklarierte, zahlte keine Steuern mehr. Der Theorie zufolge hätte die «Entlastung» einen gewaltigen Anstieg an unternehmerischer Aktivität ausgelöst und sich sozusagen selbst finanziert. In der Praxis rissen die Kürzungen riesige Löcher in die Staatskasse, so dass das oberste Kansas-Gericht schliesslich befand, die Schulen seien dermassen klamm gehalten, dass die Verfassung verletzt werde.
Es kam zu einer Revolte im Kansas-Parlament, bei welcher eine Gruppe von Frauen die entscheidende Rolle und die moderaten Republikanerinnen das Zünglein an der Waage spielten. Vor zwei Jahren wurde eine Demokratin zur neuen Gouverneurin gewählt. Die Wahl offenbarte eine Vertiefung der parteipolitischen Kluft zwischen den städtischen und den ländlichen Gebieten. Das prosperierende Johnson County, wo Owen Strachans Kirche und Rui Xus Bezirk liegen, gewann sechs demokratische Sitze dazu, im Westen gingen sechs verloren. Der ländliche Westen schickt keinen einzigen Demokraten mehr in die Hauptstadt Topeka.
Samstagmorgen, 4. Januar, im zweiten Stock des «Price Chopper»-Supermarkts in Lenexa. Ein Raum aus Plastiktäfer. Auf Blechstühlen sitzen zirka 50 Personen, Mittel- bis Pensionierungsalter – der Kern der lokalen Demokraten, hat sich zur Wahlvorbereitung versammelt. Die Hoffnungen ruhen auf der Demographie, sie arbeitet gegen die Trumpisten. Der wachsende Unterschied zwischen Land und Stadt, respektive den suburbanen Ödnissen rund um die Städte, liege nicht an der Geographie, sagt Politologe Miller. Massgebend seien die drei Faktoren Rasse, Bildung und Religion sowie «kulturelle Ressentiments».
Miller stützt sich auf Befragungen: 90 Prozent der republikanischen, aber nur 60 Prozent der demokratischen Wählerschaft ist weiss, die Demokraten haben bei der farbigen Bevölkerung im städtischen Raum die Nase vorn. Die am stärksten wachsende politische Differenzierung ist die Spaltung der weissen Wählerschaft nach Bildungsgrad – je niedriger, desto weiter rechts, je höher, desto näher links. Die weissen Evangelischen haben einen Plafond erreicht, die am stärksten wachsende religiöse Gruppe sind Gläubige, die keiner organisierten Kirche angehören wollen. Zusammen ergibt dies neue politische Konfliktstellungen – die «kulturellen Ressentiments», die an Religionsfragen ausgetragen werden.
Der Theologe Owen Strachan sieht das auch, mit Sorge. «Die Linke hat Wirkung im Kernland, vielerorts werden neue Gesetze erlassen, Sexgesetze.» Auch seine Gemeinde Prairie Village habe eine Antidiskriminierungsverordnung erlassen. An der Gemeindeversammlung sei seine Seite unterlegen. «Der Wandel ist real. Ich weiss nicht, wo das hinführt.»
Der Hammer fällt. Kein Wunder, dass die Owen Strachans Donald Trump die Stange halten, warts and all – mit all seinen Fehlern und Schwächen.
Füürtüfäli
RicoH
Ich finde es immer wieder bemerkenswert, dass sie ihre Werte als unantastbar (göttlich) und anders denkende als nicht zugehörig (feindselig) betrachten...
Ist irgendwie nur logisch, dass sie Trump wählen. Die ticken auf der gleichen Ebene.
Töfflifahrer
Oder ist bei denen bei der Überfahrt der Mayflower einfach nur das Porzellan im Oberstübchen zu Bruch gegangen?