«Es ist mein voller Ernst», sagte Donald Trump schon im Sommer 2016 in Altoona, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Pennsylvania. Seine Fans hörten ihn bei einer Wahlkampfveranstaltung rufen: «Sie können uns nicht schlagen. Und wenn sie uns besiegen, dann nur, weil sie betrügen.» Er wiederholte es. Der Sieg sei ihm und seinen Anhängern nur zu nehmen, wenn die Demokraten Wahlbetrug verübten.
Es waren Sätze, die damals kaum auffielen. Auch, weil Donald Trump wenige Wochen später die Präsidentschaftswahlen gegen Hillary Clinton tatsächlich gewann. Selbst in dem seit Jahrzehnten demokratisch wählenden Pennsylvania ging er, der Republikaner , als Sieger hervor.
Und trotzdem. Bereits vor mehr als fünf Jahren hat Donald Trump in Altoona eine Erzählung begonnen, die in etwa lautet: Nur er könne gewinnen, denn das amerikanische Volk liebe ihn. Wer etwas anderes behaupte, sei quasi ein Verräter dieser grossen Nation. Trump begann in Altoona zu säen, wovon er bis heute profitieren will: den Zweifel.
Sorgsam nährt er seither das ohnehin in weiten Teilen der Bevölkerung vorhandene Misstrauen gegen den Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Auch in den USA gibt es Probleme mit Korruption. Das uneinheitliche, teils schlampige und durchaus verbesserungsbedürftige Wahlrecht in den Bundesstaaten führte schon früher zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Republikanern.
Mit dem Sturm seiner Anhänger auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 erreichte Trumps «Stop the Steal»-Erzählung vom grossen Wahlbetrug einen ersten, vorläufigen Höhepunkt. Doch die Geschichte wird noch immer weiter gesponnen. Donald Trump versucht damit, eine möglichst grosse Anzahl seiner Anhänger fest zusammenzuhalten. Um bereit zu sein, wenn sich die nächste Gelegenheit bietet. Tatsächlich ist die Angst in den USA gross, dass es ein nächstes Mal geben wird. Eines, das dann allerdings nicht mehr so glimpflich ausgehen wird wie Anfang Januar 2021.
Ein Jahr nach dem zwar chaotischen, aber nicht minder gewalttätigen Angriff auf die Herzkammer der amerikanischen Demokratie, bei dem fünf Menschen starben, sind die USA mehr denn je ein tief gespaltenes Land. Auch, was die Deutung der Ereignisse vom 6. Januar angeht.
Zwar teilt der Riss die Gesellschaft nicht unbedingt in zwei gleichmässige Hälften aus Demokraten und Republikanern. Aber gut ein Drittel der Amerikaner vertritt eine deutlich andere Auffassung von dem, was die anderen zwei Drittel als faktische Wahrheit anerkennen.
Laut Umfragen glaubt etwa ein Drittel, dass es handfeste Beweise dafür gibt, dass es bei den Wahlen 2020 weit verbreiteten Wahlbetrug gab. Dass Donald Trump den Wahlsieg Joe Bidens nicht anerkennt, dafür gebe es deshalb berechtigte Gründe.
Ein Drittel der Amerikaner findet es gerechtfertigt, im Zweifel auch mit Gewalt gegen die eigene Regierung vorzugehen. Etwa im Falle einer entstehenden Tyrannei, Diktatur oder Militärherrschaft. Auch der Bruch der Verfassung gilt für viele als hinreichende Bedingung, die Regierung gewaltsam zu stürzen.
Zwar klingen diese Gründe zunächst auch nach einem gesunden, demokratisch geprägten Sinn für zivilen Ungehorsam. Genau darin besteht aber auch ein Jahr nach dem Sturm aufs Kapitol die Gefahr für die US-Demokratie. Denn Donald Trump und seine Mitstreiter stellen diese Definitionen auf den Kopf. Sie wollen festlegen, wann eine Regierung das eigene Volk unterdrückt. Zum Beispiel dann, wenn Trump nicht Präsident ist.
Geht es nach vielen von Trumps Anhängern, beginnt Unterdrückung mit Sperrungen in sozialen Netzwerken, geht mit Masken-, Impf- und Steuerpflichten weiter und endet in Trumps aufrechterhaltener Erzählung vom gross angelegten Wahlbetrug der Demokraten.
Trump legt seinen Stoff vom gestohlenen Sieg wie einen fein gewebten Schleier über seine Anhänger. Durch diesen betrachtet ein Grossteil seiner Wähler die Realität. Alles andere wird herausgefiltert. Die Feinde der Demokratie, das sind eben gerade die anderen.
Bevor die teils mit Elektroschockern, Eishockeyschlägern und Sturmhauben ausgestattete, gewaltbereite Menge am 6. Januar 2021 zum Kapitol zog, sagte Trump in seiner Rede nach zahlreichen Einlassungen zum Wahlbetrug: «Wenn ihr nicht kämpft und dabei alles gebt, dann werdet ihr kein Land mehr haben.» Man solle sich nun auf den Weg zum Kapitol machen. «Ich werde mit euch sein», rief er noch, zog sich dann aber mit seinem Team ins Weisse Haus zurück und wartete ab.
Sein Sohn Donald Trump Jr. peitschte die sich um den Wahlsieg betrogen fühlende, wütende Menge zusätzlich auf: «You can be a hero or you can be a zero!» Wer heute kein Held sei, der sei eine Null, richtete er seinen Appell an die republikanischen Kongressabgeordneten. Sie sollten die Bestätigung Joe Bidens im Kongress auf den letzten Metern verhindern. Es sei zwar die Entscheidung eines jeden einzelnen. «Aber wir werden alle zusehen», rief er . Und wer sich dafür entscheide, kein Held, sondern eine Null zu sein, dem drohte er: «Wir kommen euch holen! Und wir werden dabei eine gute Zeit haben!» Die Menge johlte und setzte sich in Bewegung. Der Rest ist Geschichte, die umgeschrieben werden soll.
Für die Mehrheit der Amerikaner ist zwar klar, dass die angestachelten Gewalttäter tatsächlich auch gewalttätig waren. Aber ein grosser Teil der Bevölkerung folgt bis heute der Trump'schen Lesart. Viele halten den 6. Januar für nicht mehr als eine leicht eskalierte Protestveranstaltung, wie es sie auch von linker Seite schon gegeben hat. Nur wurden in Washington keine Ladenfenster eingeworfen, es wurde die Herzkammer der Demokratie gestürmt.
Noch immer werden Verschwörungstheorien verbreitet, in Social-Media-Kanälen ebenso wie auf Fox News und anderen Trump zugeneigten Fernsehsendern. So kursiert etwa ein Video von einem angeblichen Geheimdienstler in einem Trenchcoat, der die Leute bereits am Tag zuvor aufgewiegelt haben soll. Nicht nur zum, sondern ins Kapitol müssten die Leute am nächsten Tag gehen, wenn sie etwas erreichen wollten, forderte er die Trump-Fans auf. Viele glauben, dieser Mann sei ein von den Demokraten beauftragter Anstifter gewesen. Auch Vertreter der Antifa seien am Tag selbst jene gewesen, welche die Gitter durchbrochen hätten.
In den Erzählungen Trumps und seiner vielen Anhänger werden die Verurteilten und Festgenommenen vom 6. Januar zu politischen Gefangenen erklärt . Dass Trump und sein Team die Menge ihrerseits missbrauchten und manipulierten, um Chaos zu verbreiten und den Prozess zur Übergabe der Macht zu stören, fällt den meisten nicht auf. Zu sehr stecken sie in der Erzählung fest, die den Sturm aufs Kapitol umdeutet zu einer von einem korrupten Staat gestellten Falle für die rechtschaffenen Bürger einer in Gefahr befindlichen Demokratie. Die von einem Polizisten getötete Ashli Babbitt ist demnach keine Aufrührerin mehr, sondern eine Märtyrerin, die im Kampf für die Demokratie getötet wurde. Trump unterstützt Babbitts Familie bis heute.
Wie kurz die USA am 6. Januar vor einem tatsächlichen Putsch standen, auch darüber gehen die Meinungen der Amerikaner auseinander. Die Ermittlungen zu den Hintergründen und Vorbereitungen der Ereignisse dauern an. Klar ist: Donald Trump suchte nach Wegen, an der Macht zu bleiben – und sei es durch Unterlassung. Selbst auf die späteren Bitten seiner Kinder Ivanka und Donald Jr. liess er wertvolle Zeit verstreichen, auf die Aufrührer im Kapitol einzuwirken. Hätte Donald Trump seinen damaligen Justizminister William Barr wie gewünscht dazu gebracht, einen Wahlbetrug offiziell festzustellen, hätte es tatsächlich zu einem Putsch kommen können.
Donald Trump soll es sein, der entscheidet, was wahr und was falsch zu sein hat. So wie im Sommer 2016 in Altoona, Pennsylvania, als er schon vor dem eigentlichen Wahltag im November wusste, dass nur er gewinnen kann. Nicht das Volk, nicht seine Institutionen sind der Gradmesser. Auch Gouverneure, Gerichte und Justizminister sollen im Zweifel so handeln, wie er es für richtig hält. Dieser Zweifel soll allgegenwärtig sein in Amerika. Er war und bleibt Trumps grösster Verbündeter. Selbst wenn er seine Lüge vom Betrug irgendwann eingestehen würde, änderte das wohl nur noch wenig.
Trumps Saat ist aufgegangen. Sie wuchert. Er lauert.