Derek Chauvin, der am 25. Mai 2020 während mehr als neun Minuten auf dem Genick des gefesselten George Floyd kniete, wurde am Freitagabend kurz vor 22 Uhr zu 22.5 Jahren Haft verurteilt. Das ist deutlich milder als die 40 Jahre, die sich Floyds Angehörige erhofft hatten.
«Wir haben ‹lebenslänglich› gekriegt», sagte Floyds Bruder Philonise kurz vor der Urteilsverkündigung. Derek Chauvins Mutter sprach ihrem regungslos dasitzenden Sohn Mut zu. Und Chauvin selbst sprach nur ganz kurz ins Mikrofon: «Ich kondoliere der Familie Floyd. Mehr kann ich derzeit nicht sagen», meinte der 45-Jährige.
Der Mord an George Floyd hatte in den USA monatelange Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung ausgelöst und der Debatte über Polizeigewalt und Rassismus bei den Ordnungshütern neuen Auftrieb verliehen. «Defund the police» («Nehmt der Polizei das Geld weg») wurde zum Schlachtruf linker Kreise im Präsidentschaftswahlkampf. Vielerorts geriet die Polizei unter einen generellen Rassismus-Verdacht.
Ein gutes Jahr nach dem Mord an Floyd steht Amerika deshalb nun vor einem neuen Problem: die Cops laufen scharenweise davon. Wie die «New York Times» berichtet, stieg die Kündigungsrate bei den US-Polizeikorps im vergangenen Jahr um fast 20 Prozent, jene der Pensionierungen gar um fast 50 Prozent. In der Stadt Asheville in North Carolina etwa haben im vergangenen Jahr 80 der 238 Polizisten ihren Badge abgegeben. Sie hätten einfach nicht länger als «bad guys» gelten wollen, erklärte der lokale Polizeichef.
Gleichzeitig mit der Kündigungswelle bei der Polizei ist in den USA die Mordrate stark angestiegen, im Jahr 2020 um fast einen Fünftel, je nach Zählweise. Ob es zwischen den amtsmüden Polizisten und der Zunahmen der Gewaltdelikte einen kausalen Zusammenhang gibt, ist nicht erwiesen.
Dennoch ist es in den Augen der Regierung von US-Präsident Joe Biden höchste Zeit, dass der Ruf der uniformierten Ordnungshüter wieder besser und der Anreiz, eine Polizeikarriere anzustreben, wieder grösser wird. Die im Wahlkampf angekündigte grosse Untersuchung der «police force» in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit hat Biden zwar nicht angepackt. Umso stärker aber pusht sein Team die Verabschiedung des sogenannten «George Floyd Justice in Policing Act»; ein Gesetz, das die Polizei in Amerika von Grund auf reformieren soll.
Durch die von den Demokraten kontrollierte grosse Parlamentskammer ist das Gesetz längst durch. Die kleine Kammer (der Senat) sperrt sich allerdings noch gegen die Massnahmen. Angedacht wäre etwa eine nationale Datenbank für Polizisten, die fehlbares Verhalten an den Tag gelegt haben. Zudem sollen auf dem Körper getragene Kameras zur Pflicht werden. Bestimmte Würgegriffe und Festhaltetechniken wie jene, die Derek Chauvin gegen George Floyd angewendet hatte, würden landesweit bis auf wenige Ausnahmen verboten.
Gegen die Vorlage stemmen sich die Republikaner, angefeuert von den meisten Polizeigewerkschaften des Landes. Sie befürchten, dass das Gesetz der Polizei weitgehend die Hände binden würde im Kampf gegen die Kriminalität. Der einstige US-Präsident Donald Trump hatte 2020, als das Gesetz erstmals diskutiert wurde, sogar mit dem Veto gedroht.
Der Fall von Derek Chauvin aber zeigt, dass sich der Wind in Amerika allmählich dreht. Vor wenigen Jahren galt es als unvorstellbar, dass Polizisten – wie im Chauvin-Prozess geschehen – gegen ihre Kollegen vor Gericht aussagen. Diese «blaue Wand des Schweigens» wurde mit dem gestrigen Urteil nun definitiv durchbrochen. (aargauerzeitung.ch)