Das Schicksal schlug gleich ganz am Anfang zu. Joe Biden hatte eben seinen 30. Geburtstag gefeiert und richtete wenige Tage vor Weihnachten 1972 sein Büro in Washington D.C. ein. Kurz zuvor schaffte er als fünftjüngster Mann in der amerikanischen Geschichte die Wahl in den Senat - den Ständerat der USA.
Biden war euphorisch an jenem Montag, dem 18. Dezember. Dann klingelte das Telefon. Die Nachricht hätte schlimmer nicht sein können: Seine Frau Neilia und seine 13-monatige Tochter Naomi waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, die beiden Söhne Beau und Hunter lagen schwer verletzt im Spital. Ein Traktor hatte ihr Auto gerammt.
Im Kofferraum lag der Christbaum, den Neilia mit den drei Kindern in der Stadt ausgesucht hatte. Biden dachte an den Rückzug aus der Politik, dachte kurz an Suizid. Dann rappelte er sich auf und schwor wenige Tage später am Spitalbett seiner Söhne mit Tränen in den Augen den Eid als US-Senator.
Fast auf den Tag genau 44 Jahre später hatte Joe Biden wieder Tränen in den Augen. Diesmal vor Rührung. Barack Obama, sein Chef und enger Freund, hatte ihm in einem festlich geschmückten Saal des Weissen Hauses eben die präsidiale Freiheitsmedaille überreicht, die höchste zivile Auszeichnung, die ein Amerikaner erhalten kann.
Die geladenen Gäste klatschten, Biden hatte acht Jahre lange als Vizepräsident gedient, war 74, allseits respektiert. Die Feier war ein würdiger Abschluss seiner langen Laufbahn.
So mindestens sahen das alle anderen. Auch Obama, der «seinem Freund Joe» davon abgeraten hatte, 2016 ins Präsidentschaftsrennen einzusteigen. Doch Biden hielt's nicht lange aus an der Seitenlinie der amerikanischen Politik. Vor allem jetzt nicht, wo dieser Neo-Republikaner Donald Trump auf die politische Bühne stürmte und nach dem Mordanschlag eines Rechtsextremen auf friedliche Demonstranten in Charlottesville 2017 sagte, es gäbe «auf beiden Seiten anständige Leute».
Da kam Biden wieder in den Sinn, was er damals im Lateinunterricht an der katholischen Archmere Academy gelesen hatte:
Platon hatte es geschrieben. Biden hatte sich's gemerkt.
Passiv sein kann Joseph Robinette Biden Junior nicht so gut. Aufhören liegt ihm nicht, auch nicht beim Reden. Während seiner 36 Jahre als US-Senator handelte er sich den Ruf eines Laferi ein, der vielen gegen den Strich redete, aber nie auf den Punkt kam. Obama soll als Senator während einer der berüchtigten Biden-Ansprachen in der kleinen Parlamentskammer seinem Assistenten einen Notizzettel mit den Worten «Erschiess.Mich.Jetzt!» zugeschoben haben.
Doch eines hat ihn das Leben gelernt: Biden kann gut zuhören. Den Sorgen der Pendler etwa, die er auf seiner täglichen Zugfahrt zwischen seinem Wohnort Wilmington und Washington D.C. traf. 75 Minuten hin, 75 Minuten zurück, jeden Tag. Am Morgen mit den Kindern frühstücken, am Abend der obligate Gutenachtkuss, dazwischen prall gefüllte Stunden in seinem Hauptstadt-Büro.
Dort hingen drei Dutzend Fotos seiner verstorbenen Frau. Auch das Bikinibild, das er stolz einer Reporterin des Magazins «Washingtonian» zeigte und erzählte, wie alles in seiner kurzen Ehe mit Neilia immer besser geworden sei, auch der Sex. Er sagte zu ihr:
Neben dem Bikinibild hing ein Foto von Neilias Grab und das Sonnet «Über seine verstorbene Frau» von John Milton.
Biden mochte englische Dichter. Genau wie die Englischlehrerin Jill Tracy Jacobs, die er bei einem Blind-Date kennen lernte. 1977 heiratete er sie und hatte mit ihr noch einmal eine Tochter. Jill zog zu Joe ins Industriestädtchen Wilmington, wo Biden seit 1952 lebt.
Als Zehnjähriger kam er mit seiner Familie von Scranton, Ohio hierher. Der Vater fand einen Job als Chevrolet-Verkäufer. Der kleine Joe teilte sich ein Zimmer mit seinen zwei Brüdern und seinem Onkel. Man hatte nicht viel, aber man machte das Beste draus.
Noch heute rühmt sich Biden als Mann der Mitte, nicht nur der politischen, sondern auch der sozioökonomischen. Forbes schätzt sein Vermögen auf neun Millionen Dollar. Als Ex-Vizepräsident der USA verdient er pro Ansprache zwischen 66 000 und 190 000 Dollar. Doch der selbsternannte «Middle Class Joe» wischt das weg, sagt die ganze Zeit «Folks» und «Man» und krempelt die Ärmel hoch.
In der Schule spielte Biden Football, nebenher jobbte er als Bademeister. Später an der University of Delaware holte er sich mal einen Verweis ab, weil er einen Schulaufseher mit einem Feuerlöscher einschäumte.
Und auch an der Syracuse University im New Yorker Hinterland fiel der athletische Junggeselle nicht eben durch seinen Fleiss auf.
Sein Jura-Studium schloss er auf Rang 76 von 85 seines Jahrgangs ab. Immerhin aber hatte er zu diesem Zeitpunkt sein grösstes Jugendtrauma überwunden: Jahrelang hatte er gestottert. In der Schule lachten sie Biden aus und nannten ihn «Bye-Bye», weil er bei der Aussprache seines Nachnamens oft ins Stocken geriet.
Er hatte Angst vor dem Vorlesen und lernte ganze Passagen seiner Schulbücher auswendig, um sie vor der Klasse flüssiger runterrattern zu können. Er übte mit Kieselsteinen im Mund, weil er gelesen hatte, dass man dadurch das Stottern besiegen könne.
Was es aus ihm mal geben soll, das hat Joe Biden früh gewusst. Als seine zukünftige Schwiegermutter ihn bei ihrem allerersten Treffen nach seinem Traumjob fragte, sagte er: US-Präsident. Dreimal hat er's bisher versucht. 1988 beendete er seine Kandidatur, als herauskam, dass er grosse Teile seiner Wahlkampfreden vom britischen Labour-Politiker Neil Kinnock abgekupfert hatte.
Im selben Jahr unterzog er sich einer Operation wegen einer lebensbedrohlichen Erweiterung einer Arterie im Hirn.
2008 schied er aus dem Präsidentschaftsrennen aus, nachdem er bei den Vorwahlen in Iowa auf dem miserablen fünften Platz landete. 2020 reichte es in Iowa dann für Platz vier.
Irgendwie schaffte er es durch die elf demokratischen Vorwahl-Debatten, obwohl das Stottern wieder da ist, obwohl sich die Versprecher wieder häufen. Seine Sätze verlaufen oft im Nirgendwo, verfangen sich in nuschelnden Obertönen und finden nicht zum Ende. «Look!», sagt Biden dann, hält die Arme vor sich in die Luft und beginnt aufs Neue. Ausgerechnet für den Satz «Die Amerikaner sollen über meine physische und mentale Fitness entscheiden» brauchte er in einem Interview diese Woche drei Anläufe.
Aber für Kieselsteinübungen ist es zu spät. Schulbücher auswendig lernen bringt nichts mehr. Es ginge jetzt um mehr. Biden weiss das - und lacht es schneeweiss weg. Seine Gegner sind nicht mehr die Pausenplatz-Bullys von damals, sondern Donald Trump und dessen Mitkämpfer, die «die Seele von Amerika zerstören wollen». Biden liess Trump ausrichten, er könne froh sein, dass sie nicht gemeinsam zur Schule gegangen seien. Da hätte er ihn nämlich verprügelt.
Doch was will Joe Biden eigentlich, ausser Trump eins auszuwischen? Im November wird er 78. So alt war noch kein US-Präsident. Und so alt - sagen viele - sollte ein US-Präsident auch nicht sein. Biden hat Grosskinder, er hat seine Corvette Stingray 1967 mit gut 300 PS, er hat ein neues Ferienhaus in Delaware und viele Freunde, auch Republikaner.
Das Leben könnte schön sein. Stattdessen bleibt es streng. Die Polizei ist zu reformieren, das Klima zu retten, die Hochschulgebühren abzuschaffen, die Steuern für Reiche zu erhöhen, das Gesundheitssystem auszubauen. Letzteres ist für ihn eine Herzensangelegenheit, seit sein Sohn Beau vor fünf Jahren an einem Hirntumor verstorben ist.
Doch all diese Themen, die sind eigentlich nicht zentral für Biden. Was zählt, ist einzig die Aufrichtigkeit. Inhalte sind sekundär, die Würde ist wichtiger. Sein Wahlkampfslogan bei den Vorwahlen im Winter lautete «No Malarkey!» («Kein Quatsch!»). Das muss reichen. Biden will das Land eigentlich gar nicht regieren. Er will es heilen.
Die Zahlen sehen gut aus für ihn. Drei Monate vor den Wahlen liegt er überall da vorne, wo's drauf ankommt. Doch wie sein Gegner hat auch Biden ein paar Leichen im Keller, die in der entscheidenden Phase des Wahlkampfs wieder ins Rampenlicht gezerrt werden dürften. Die Geschichte mit seinem Sohn Hunter, zum Beispiel, der sich 2014 von einer ukrainischen Erdgasfirma für ein Monatsgehalt von 50 000 Dollar anstellen liess, während sich Biden als Vizepräsident für die Absetzung des ukrainischen Generalstaatsanwalts einsetzte.Die Richter sagen, Biden habe nichts Illegales gemacht.
Oder die Geschichte seiner einstigen Assistentin Tara Reade, die ihm vorwirft, er habe sie 1993 im Gang eines Washingtoner Bürogebäudes sexuell bedrängt. Biden streitet das ab, vehement.
Ein weiteres Problem: Wie sein Gegner hat auch Joe Biden zuweilen ein loses Mundwerk. Bei einer Wahlkampfveranstaltung beschimpfte er einen Fragesteller als «fett» und «eh zu alt, um mich zu wählen». Er behauptete, bei einem Truppenbesuch im Irak angeschossen und während einer Visite bei Nelson Mandela in Südafrika verhaftet worden zu sein. Beides stimmt nicht. Und er bezeichnete einen Fernsehjournalisten, der ihn nach seiner mentalen Gesundheit fragte, indirekt als «Kokain-Junkie».
Da wundert es eigentlich niemanden, dass seine Strategen nicht besonders scharf darauf sind, den alten Haudegen möglichst rasch von der Leine zu lassen. Das mediale Rampenlicht bekommt ihm nicht gut. Da macht er zuweilen Faxen. Drum hat er sich seit Ausbruch der Coronaepidemie in den USA auf im Schnitt einen kurzen Auftritt pro Woche beschränkt.
Ansonsten macht Joe Biden wieder dasselbe, was er schon 1973 nach dem Tod seiner ersten Frau und seiner Tochter machte: Er versteckt sich. Damals war die Presse gnadenlos hinter ihm her. Die Zeitschrift «Women's Wear Daily» porträtierte den hübschen Anzugträger mit dem lichten Haar als begehrtesten Junggesellen im Land, Journalistenteams von New York bis Los Angeles, von Seattle bis Miami wollten ihn vor die Kamera zerren. Jetzt wie damals wollen die Menschen hören, was er zu sagen hat. Doch Biden bleibt erstaunlich stumm.
Vor 152 Jahren hat's schon mal einer mit dieser stillen Strategie ins Weisse Haus geschafft: der Republikaner Ulysses Grant, der kurz zuvor als General der US-Truppen die abtrünnigen Südstaaten besiegt hatte. Ein Journalist des «Economist» schrieb drei Tage nach der Wahl, Grant sei ein «ausserordentlich ruhiger» Mensch:
Vielleicht ist Joe Biden der neue Ulysses Grant. Ein Kriegsheld wie Grant ist er zwar nicht. Dem Aufgebot für einen Einsatz im Vietnamkrieg leistete er mit Verweis auf sein Asthma keine Folge. «Ausserordentlich ruhig» aber, das ist Biden. Ein stiller Mann im Sturm. Und vielleicht ist Stille genau das, was Amerika jetzt braucht.
Vielleicht aber auch nicht.
Doch da ist noch dieses Versprechen, das Joe Biden seinem Sohn Beau 2015 an dessen Sterbebett gegeben hat. Er hat ihm versprochen, dass er sich noch einmal für das Präsidentenamt bewerben werde. Und Versprechen, das hat Biden früh gelernt, die hält man.
Ich verstehe es einfach nicht...
Who cares. „Alles besser als Trump!“ ist das einzige was zählt. Und da kann Ich nicht mal widersprechen...
Ob den US-Bürger*innen Stille und somit auch politische Apathie hilft bleibt abzuwarten. Was nach den