Demokratischer Anspruch und Wirklichkeit klaffen im US-Wahlsystem inzwischen weit auseinander. Wie sehr, zeigen die Zwischenwahlen.
Teuer, überaus teuer sind in den USA die Zwischenwahlen. Das steht schon vor Schliessung der Wahllokale fest: Nahezu 17 Milliarden Dollar hat der Wahlkampf auf beiden Seiten verschlungen, bei dem die Republikaner die Mehrheit der Demokraten im US-Kongress brechen wollen – um Joe Biden das Regieren in den nächsten Jahren schwer bis unmöglich zu machen. Was die Demokraten selbstverständlich verhindern wollen.
17 Milliarden Dollar, das ist noch mehr Geld, als das Duell zwischen Biden und Donald Trump im Kampf ums Weisse Haus 2020 gekostet hat. Doch viel Geld auf beiden Seiten bedeutet nicht, dass die als «Schicksalswahlen» bezeichneten Midterms auch besonders gerecht ablaufen. Im Gegenteil. Schon in der Vergangenheit zeigte sich, dass das US-Wahlsystem mit vielen Problemen kämpft. Wie sehr demokratischer Anspruch und Wirklichkeit inzwischen auseinanderklaffen, zeigt eine Bestandsaufnahme:
Wer in den USA politische Macht will, braucht in der Regel vor allem eines: viel Geld. «Man muss es sich leisten können, bei einer Wahl anzutreten», erklärt Volker Depkat, der American Studies an der Universität Regenburg lehrt. «Das hat viel damit zu tun, dass Wahlen in den USA immer noch über Werbung im Fernsehen und zunehmend im Internet gewonnen werden.» In Deutschland wären Wahlkampfbudgets in Milliarden-Höhe undenkbar. Anders in den Vereinigten Staaten, wo die beiden grossen Parteien anders organisiert sind als hierzulande.
«Wer antritt, muss sich erst einmal selbst finanzieren», sagt Historiker Depkat. «Das geschieht oft über reiche Mäzene, die so die Politik in einem gewissen Ausmass im Sinne ihrer jeweiligen Interessen lenken können.» Der Forscher weist aber noch auf eine Nebenerscheinung hin: «Die USA gehören immer noch zu den wohlhabendsten Ländern der Welt, was es erschwert, politische Mehrheiten für die Anliegen der Armen am unteren Drittel der Gesellschaft zu organisieren.»
Immerhin herrscht finanziell aber eine Art Gleichstand zwischen Demokraten und Republikanern: Beide Parteien geben in etwa gleich viel für Wahlkampfwerbung aus. Die hohen Geldsummen führen in Teilen der amerikanischen Bevölkerung allerdings dazu, dass sie das Vertrauen in die Politik verlieren, insbesondere in die der Hauptstadt. Der Aussage, dass Kandidatinnen und Kandidaten für ein politisches Amt ihre eigenen Interessen verfolgen würden, stimmen laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center 65 Prozent aller erwachsenen Amerikaner zu.
Zudem spielt auch das Geld der Wähler eine wichtige Rolle. Ist ihr Wohlstand gefährdet, hat das gravierende Folgen: «Es gibt eine Verunsicherung in der Mittelklasse, die sich zum Teil aus dem politischen Prozess herausgezogen hat», so Volker Depkat. «Dass führt dazu, dass Wahlen mehr und mehr an den politischen Rändern gewonnen werden. Und die Menschen Scharlatanen ihre Stimme geben, die ihnen falsche Versprechungen machen.»
Jede Stimme zählt? Tatsächlich trifft diese Aussage in den USA nicht uneingeschränkt zu. Denn in jedem Wahlkreis gilt das Prinzip «The Winner takes it all». Stimmen für den unterlegenen Kandidaten sind also gänzlich verloren. In dieser Art des Wahlsystems ist es deshalb entscheidend, aus welchen Wählerinnern und Wählern sich ein Wahlkreis zusammensetzt. Und das beruht selten auf Zufall, sondern vor allem auf dem sogenannten Gerrymandering.
Als Gerrymandering wird in den USA der Zuschnitt von Wahlkreisen bezeichnet. Wo genau die Grenzen zwischen ihnen innerhalb eines Bundesstaats verlaufen, kann die jeweils regierende Partei relativ frei entscheiden. In Bezirken, in denen es für das eigene Lager knapp ist, können durch Gerrymandering Gebiete eingegliedert werden, in denen die Stimmen sicherer sind. «Gerrymandering ist ein Problem in den USA, wobei sowohl Republikaner als auch Demokraten sich dieser Verfahrensweise bedienen», führt Volker Depkat aus.
Im Augenblick allerdings wenden es vor allem die Republikaner an. «Weil sie in einer beträchtlichen Anzahl an Bundesstaaten die Mehrheit haben» so Depkat. Das führt zu extremem Verzerrungen der politischen und der demografischen Verhältnisse. Minderheiten sind hiervon besonders stark betroffen. Gegenden beispielsweise, in denen vorwiegend Afroamerikaner wohnen, können derart zerteilt werden, dass ihre Stimmen nicht ins Gewicht fallen. Denn Afroamerikaner wählen eher die Demokraten als die Republikaner. Der Stimmenvorteil durch Gerrymandering liegt für die Republikaner gegenüber den Demokraten bei etwa vier bis sechs Prozent.
Die Wahlkreise der liberalen Stadt Austin in Texas wurden etwa derart zerstückelt und mit Gegenden im konservativen Hinterland Austins kombiniert, dass liberale Mehrheiten nicht mehr zu erzielen sind. Der Bundesstaat Wisconsin ist ebenfalls ein Beispiel für die Folgen des Gerrymandering: 2018 haben zwar 54 Prozent der Wählerinnen und Wähler die Demokraten gewählt. Trotzdem erhielten die Republikaner 63 der 99 Sitze im Parlament.
Im nun besonders umkämpften Georgia führt das Gerrymandering dazu, dass der Bundesstaat zwar insgesamt ein Swing State ist, also ein Staat, in dem beide Parteien etwa gleich stark sind, es aber kaum noch Swing Districts (Wahlbezirke) gibt. Das bedeutet, dass in den meisten Wahlkreisen in Georgia schon jetzt ziemlich klar ist, ob sie an die Demokraten oder Republikaner fallen werden. Wer will da noch seine Stimme abgeben?
Die Ungerechtigkeit fängt bei US-Wahlen aber schon auf einer ganz anderen Ebene an: dem Wahltag. Denn Wahlen müssen dort traditionell an einem Dienstag stattfinden. Das gilt auch für die aktuellen Zwischenwahlen. In den meisten Demokratien der Welt geben Wählerinnen und Wähler ihre Stimme an den Wochenenden ab, müssen also in der Regel nicht arbeiten. Die meisten Amerikaner können ihr Bürgerrecht dagegen nur während ihrer regulären Arbeitszeit wahrnehmen. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Wahlbeteiligung in den USA meist nur zwischen 40 und 50 Prozent liegt.
Besonders ärmere Menschen schränkt die Wahl am Dienstag ein. Wer jeden Dollar braucht, muss sich ohnehin mit mehreren Jobs das Leben finanzieren. Für die Demokratie einen Verdienstausfall hinzunehmen, muss man sich also leisten können. Studien belegen, dass ärmere Amerikaner viel seltener zur Wahl gehen als wohlhabendere.
Allerdings können Amerikaner in vielen Bundesstaaten auch vor dem Wahl-Dienstag ihre Stimme abgeben. Zu diesem sogenannten «Early Voting» kommt auch noch die Möglichkeit der Briefwahl. Menschen, die viel arbeiten müssen, die alt, krank oder behindert sind oder sehr weit entfernt von einem Wahllokal wohnen, könnten so also ihre Wahl planen.
Ausgerechnet die Möglichkeit der vorzeitigen Stimmabgabe wurde in den vergangenen Monaten in rund zwanzig republikanisch regierten Bundesstaaten massiv eingeschränkt. Ein Beispiel ist Texas. Dort wurde eine weitreichende Wahlrechtsreform verabschiedet. Das eigentliche Ziel dahinter: Stimmen für die Demokraten zu verhindern.
Ethnischen Minderheiten, die oft ärmer sind und häufiger demokratisch wählen, wird es durch die Reform vor allem in den Gewinnerbezirken der Demokraten deutlich schwerer gemacht, zur Wahl zu gehen. Briefwahlboxen wurden verboten und auch 24-Stunden-Wahlstationen, bei denen man bislang mit dem Auto vorfahren konnte. Dass dies keine Kleinigkeit ist, könnte sich im hart umkämpften Bundesstaat Georgia zeigen. Joe Biden gewann ihn 2020 mit nur 11'000 Stimmen Vorsprung vor Donald Trump. Jetzt gibt es aber auch dort ein diskriminierendes, neues Wahlgesetz.
Regelmässig wird auch kritisiert, dass jeder Bundesstaat zwei Senatoren nach Washington, D.C. entsendet – unabhängig von der Bevölkerungszahl. Dabei wird übersehen, dass anders als im Senat die Mitglieder des Repräsentantenhauses entsprechend der Bevölkerungszahl der Bundesstaaten gewählt werden, aus denen sie stammen. «Den US-Senat isoliert zu betrachten, wird der Sache daher nicht gerecht», sagt Volker Depkat. «Innerhalb des Kongresses ist er ohne das Repräsentantenhaus nicht denkbar, beide Kammern müssen Gesetzesvorhaben zustimmen.»
Für die beiden Kammern des US-Kongresses gebe es also zwei unterschiedliche Repräsentationsprinzipien, erklärt der Historiker Depkat. Der Senat steht für die Gleichheit zwischen den Bundesstaaten, die jeweils zwei Senatoren entsenden, das Repräsentantenhaus für die Vertretung der Staaten gemäss ihres Bevölkerungsproporzes. Nun wird bei den aktuellen Midterms eben dieses Repräsentantenhaus nebst 35 Senatoren neu gewählt.
Neu bei diesen Zwischenwahlen ist die grosse Anzahl von Kandidaten der Republikaner, die behaupten, die Präsidentschaftswahl von 2020 sei von den Demokraten «gestohlen» worden. Sollten sie jeweils die Wahl verlieren, ist völlig unklar, ob sie das Ergebnis anerkennen oder wie Donald Trump den Sieg der Gegenseite leugnen werden. Diese Abkehr von einem Grundprinzip der Demokratie stellt wohl die grösste Gefahr für Amerika dar.
Auf vielen Ebenen versuchen die Republikaner ausserdem Personen einzusetzen, die im Zweifel bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2024 die Ergebnisse für ungültig erklären könnten. Dazu gehört unter anderem das Amt des Innenministers in vielen Bundesstaaten. Vielfach kandidieren glühende Trumpisten für dieses Amt. Dort, wo überparteilich und neutral agiert werden muss, könnte also bald das Parteibuch über Sieg und Niederlage entscheiden. Trump gibt das offen zu und sagt:
Dies wäre das Ende der amerikanischen Demokratie, wie wir sie kennen.
((Von Bastian Brauns und Marc von Lüpke/bb,mvl ))