In früheren Zeiten konnte man im Lädeli anschreiben lassen, wenn man knapp bei Kasse war. Also auf Pump einkaufen. Heutige Supermärkte bieten diese Möglichkeit nicht – ausser in Grossbritannien. Dort offeriert die Ladenkette Iceland Foods finanzschwachen Kunden neu zinslose Darlehen für den Kauf von Lebensmitteln.
Das System sieht flexible Rückzahlungsprogramme vor, und die Kundschaft solle vor Inkassobüros geschützt sein, sagte Iceland-Geschäftsführer Richard Walker dem Sender Sky News. Begründet wird die ungewöhnliche Massnahme mit den stark gestiegenen Lebenshaltungskosten, unter denen vor allem arme Haushalte zu leiden hätten.
Die Cost-of-Living-Krise ist im Vereinigten Königreich das dominierende Thema. Am Mittwoch wurde bekannt, dass die Inflation im Juli auf 10,1 Prozent gestiegen ist, den höchsten Wert seit 40 Jahren. Das ist mehr, als von den Experten erwartet wurde, und gleichermassen auf gestiegene Lebensmittel- und Energiepreise zurückzuführen.
Und es dürfte noch schlimmer kommen. Die Bank of England, die britische Notenbank, rechnet damit, dass die Inflation bis zum Jahresende auf 13 Prozent ansteigen und die Wirtschaft in eine schwere Rezession stürzen könnte. Der Hauptgrund sind die staatlich regulierten Energie- und vor allem Gaspreise, die im Oktober angepasst werden.
Es droht ein veritabler Schock. Der frühere Labour-Premierminister Gordon Brown warnte in einem Beitrag für die Zeitung «Observer» vor einer «finanziellen Zeitbombe», die im Oktober explodieren werde. 27 Millionen Menschen in Grossbritannien droht gemäss Brown ein Phänomen namens Fuel Poverty, also Armut wegen steigender Brennstoffpreise.
Eine neue Studie der Universität York zeichnet ein noch düstereres Bild. Nach einer für Januar vorgesehenen weiteren Anpassung der Energiepreise könnten zwei Drittel aller britischen Familien oder rund 45 Millionen Menschen von Fuel Poverty betroffen sein. Selbst mittelständische Haushalte hätten in diesem Fall Mühe, ihre Rechnungen zu bezahlen.
Die brutale Alternative könnte lauten: heat or eat – heizen oder essen. Sie droht auch im übrigen Europa, allerdings nicht im gleichen Ausmass wie in Grossbritannien. Dort tragen mehrere Faktoren dazu bei, etwa die Privatisierung von Energiekonzernen, das unter den seit 2010 regierenden Konservativen ausgedünnte soziale Netz oder die oft schlecht isolierten Wohnhäuser.
Hinzu kommen strukturelle Schwächen der Wirtschaft, etwa eine niedrige Produktivität, die durch den Austritt aus dem europäischen Markt verstärkt werden. Für Christopher Dembik, einen Analysten bei der dänischen Saxo Bank, gleicht die britische Wirtschaft «mehr und mehr jener eines Schwellenlandes», wie er dem US-Fernsehsender CNBC sagte.
Der einzige Faktor, der sie noch von einem Schwellenland unterscheide, sei das Pfund als stabile Währung. Dembik prognostiziert den Briten eine lange und tiefe Rezession: «Was der Brexit allein nicht geschafft hat, hat der Brexit zusammen mit Covid und der hohen Inflation erreicht. Die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs ist abgestürzt.»
Ausgerechnet Grossbritannien, dem einstigen Pionier bei der Industrialisierung, droht der Rückfall zum Schwellenland? Die Vorstellung ist bizarr, doch Gordon Browns Schilderung macht sie plausibel. In seiner schottischen Heimatregion Fife sehe er Szenen, «die an die hungrigen 1930er-Jahre erinnern», schrieb der Ex-Regierungschef im «Observer».
«Kinder gehen schlecht gekleidet und unterernährt zur Schule, Rentner müssen wählen, ob sie ihren Stromzähler oder sich selbst füttern sollen, Pflegekräfte müssen nach einer langen Nachtschicht bei ihrer Lebensmitteltafel anstehen», so Brown. Die Kindheit vieler Jungen und Mädchen gleiche zunehmend «üblen Szenen aus einem Roman von Charles Dickens».
Der knorrige Schotte war nie sonderlich beliebt, doch an Gordon Browns Kompetenz als Finanz- und späterer Premierminister zweifelt auf der Insel kaum jemand. In seinem Artikel verlangte er vom heutigen Regierungschef Boris Johnson sowie von Liz Truss und Rishi Sunak, den beiden Bewerbern um seine Nachfolge, sich auf ein «Notfallbudget» zu einigen.
Johnson aber hat keine Lust, vor seinem Abgang am 5. September etwas Substanzielles für das Land zu leisten. Er verbringt ausgedehnte Sommerferien in Griechenland, nachdem er zuvor in Slowenien die Flitterwochen mit Ehefrau Carrie nachgeholt hatte. Einmal mehr erweist er sich damit als Egomane, dem nur sein persönliches Wohl am Herzen liegt.
Truss und Sunak wiederum bieten im Wahlkampf unterschiedliche Rezepte gegen die Fuel Poverty an. Die Aussenministerin will die Steuern senken. Dies lehnt der frühere Schatzkanzler ab. Erst müsse die hohe Inflation bekämpft werden. Stattdessen verspricht Sunak nicht näher definierte Zuschüsse für bedürftige Haushalte.
Beide haben das Problem, dass sie von den rund 180’000 Mitgliedern der Konservativen Partei gewählt werden müssen. Es handelt sich überwiegend um ältere weisse und gut situierte Männer, die sich kaum für die explodierenden Heizkosten interessieren, dafür umso mehr für tiefe Steuern. Liz Truss liegt denn auch in den Umfragen klar vorn.
Dieses Vakuum nützt die oppositionelle Labour-Partei aus. Ihr Vorsitzender Keir Starmer forderte diese Woche, die Energiepreise für private Haushalte während sechs Monaten einzufrieren. Kritiker bezweifeln, dass diese Zeitspanne ausreichend ist, und sie bemängeln, dass Unternehmen und öffentliche Dienste nicht vom Preisdeckel profitieren würden.
Die Kosten wären in jedem Fall enorm. Labour rechnet mit knapp 30 Milliarden Pfund, die unter anderem durch eine Steuer auf «Krisengewinne» der Energiekonzerne erzielt werden sollen. Bei der Bevölkerung jedoch trifft die Opposition einen Nerv. In Umfragen unterstützen mehr als 80 Prozent der Befragten ein Einfrieren der Energiepreise.
Die regierenden Tories sind gefordert. Beobachter gehen davon aus, dass der neue Premierminister oder die Premierministerin, falls Truss ihren Vorsprung halten kann, nach der Amtsübernahme im September schnell einen eigenen Plan vorlegen wird. Denn weniger als einen Monat später droht der Preisschock. Die Zeitbombe tickt unerbittlich.
EU muss jetzt stark sein, zusammenstehen. USA könnte der nächste sein.