Die Windräder stehen still, nur ein paar Raben stochern in den topfebenen Äckern. Niemand da, der Auskunft geben könnte, wo Augustins Hof lag. Oder liegt, um genau zu sein: Den Hof gibt es noch, Augustin nicht mehr. Der Schweinezüchter aus der französischen Region Picardie, nördlich von Paris und unweit des Ärmelkanals, hat sich mit 31 Jahren das Leben genommen. Seiner Frau Camille sagte er, er gehe noch kurz was bei der Mühle nachschauen.
So lapidar beschreibt es Camille in einem Buch namens «Tu m’as laissée en vie»: «Du hast mich lebend zurückgelassen». Der nüchterne Bericht fand ab Erscheinen ein breites Publikum. Die Thematik ist sehr verbreitet, obwohl sie gerade in den am stärksten betroffenen Landstrichen am meisten verdrängt wird.
In Frankreich sind 2015, dem Jahr der letzten detaillierten Erhebung, 650 Bauern durch Suizid aus dem Leben geschieden. Im Agrarbereich liegt die Suizidrate ganze 50 Prozent höher als in der übrigen Bevölkerung. Noch höher liegt sie bei den ärmeren Landwirten, welche die Mindestkrankenversicherung beziehen. Am stärksten betroffen sind Nordfrankreich und die Picardie, das Département Jura und das Burgund, die Bretagne und die Auvergne. 80 Prozent sind Männer, mehrheitlich Milchbauern und Rinderzüchter.
Camille Beaurain mag den Ausdruck Selbstmord nicht. «Mein Mann hat sich nicht getötet, er wurde umgebracht!», sagt sie. Sie meint das natürlich im übertragenen Sinn. Aber trotzdem. Der heute 27-Jährigen ist keinerlei Wut anzuhören, sie erzählt so sachlich und genau wie in ihrem Buch, voller zurückgehaltener Trauer. Sie war gerade 15, als sie ihren nachmaligen, um sieben Jahre älteren Mann per Internet kennen lernte. Bald zog sie auf das Gut in der Picardie-Gegend Vimeu.
Sie heirateten, verzichteten aber wegen der Arbeit auf eine richtige Hochzeitsreise. Normalerweise schufteten sie sechseinhalb Tage die Woche. «Nur am Sonntagnachmittag ruhten wir uns aus», erzählt die Nordfranzösin.
Natürlich stellten sich Probleme ein. Der Hof war eigentlich zu klein, die Schweine waren zu wenig zahlreich, um ein Auskommen für zwei zu finden. Aber Augustin Beaurain dachte nicht daran, das Gut seiner Familie zu verlassen. Auch sein Vater hatte dort Schweine gezüchtet, bevor er unter Umständen starb, über die nie jemand sprach.
Dann verlangte Augustins Grossmutter von ihrem Enkel eine Pacht für den Boden. Das sei in gewissen Bauernfamilien üblich, sagt sich Camille Beaurain. Tiere und Geräte, die nicht in die Erbschaft fielen, musste ihr Mann für 190'000 Euro übernehmen. Der Zins für den Kredit betrug sechs Prozent.
Augustin und Camille malochten von früh bis spät, aber bald waren sie auch bei der Genossenschaft verschuldet. «Und die heisst nur ‹Genossenschaft›», erinnert sich die Witwe Beaurain. «In Wahrheit treibt sie rücksichtslos jeden Centime ein.» 24'016.88 Euro, um genau zu sein. Die erste per Post zugeschickte Rechnung über diesen Betrag fing Camille Beaurain ab. Die zweite – mit einer Zahlfrist von acht Tagen – nahm ihr Mann entgegen. Sie wandte sich an den Notar. Der drohte aber nur mit der Beschlagnahmung des Gutes. In ihrer Verzweiflung rief sie den lokalen Abgeordneten der Nationalversammlung in Paris an. Der versprach zu intervenieren, tat es auch. Zu spät: Augustin erhängte sich am Tag, bevor die schriftliche Zusage des Abgeordneten für einen neuen Kredit zu besseren Konditionen eintraf.
Nein, wütend sei sie nicht, beteuert Camille Beaurain. Trotz der Grossmutter und der Genossenschaft, trotz der Banker und Agrarbürokraten.
Auch Augustin habe nie über seine Probleme sprechen wollen – so etwas habe man in seiner Familie nie gemacht.
Camille Beaurain hat den Hof von Augustins Familie verlassen. Heute baut die Witwe, die aus einer urbanen Familie stammt, in einem kleinen Bauerngut im Departement Somme mit Hilfe eines Pächters Getreide an. Sie liebe den Beruf der Landwirtin und wolle ihn schon zum Gedenken an ihren Mann weiterführen, sagt sie. Vor allem aber hat sie aufgepasst: Auf ihrem 50-Hektar-Betrieb mit Weizen, Raps und Wintergerste lasten keine Schulden.
Doch allein von der Getreideproduktion könnte sie nicht leben, trotz EU-Agrarsubventionen:
Deshalb muss Camille Beaurain in der 50 Kilometer entfernten Stadt Amiens Teilzeit als Hebamme arbeiten.
In ihrer mageren Freizeit hilft sie im Verein «Solidarité paysans» notleidenden Landwirten. «Ich besuche sie, höre ihren Geschichten zu, die der meinen so sehr gleichen.» Mit ihrer Erfahrung kann sie Ratschläge geben, damit nicht noch mehr Verzweiflungstaten begangen werden. Auch die französische Agrarkrankenkasse MSA hat eine Telefonberatung eingerichtet, um der steigenden Zahl von Suiziden vorzubeugen. Dieser Dienst namens «Agri-Ecoute» wird jeden Monat von 200 Landwirten beansprucht. 60 Prozent rufen wegen persönlicher Probleme an, 40 Prozent wegen beruflich-finanzieller Schwierigkeiten.
«Es ist unsere Pflicht, diesen oft völlig isolierten Bauern zu helfen», sagt Camille Beaurain, und nun mischt sich doch etwas wie Empörung in ihre Stimme: «Wir können doch nicht zulassen, dass unsere Welt gerade die, welche unsere Lebensgrundlage schaffen, selber aus dem Leben schafft.»
Guter Artikel der uns zu denken geben sollte was so alles falsch läuft.