Die Mashco Piro gelten mit 750 Mitgliedern als das grösste isolierte Volk der Welt. Üblicherweise vermeiden sie jeglichen Kontakt zur Aussenwelt und leben zurückgezogen im Amazonas im Südosten Perus.
❗️ New & extraordinary footage released today show dozens of uncontacted Mashco Piro Indigenous people in the Peruvian Amazon, just a few miles from several logging companies.
— Survival International (@Survival) July 16, 2024
Read the news: https://t.co/g9GrZlf3XB pic.twitter.com/fZv5rryzVp
Vor einer Woche aber tauchten Dutzende von Mashco Piro im Gebiet der Flüsse Las Piedras und Tahuamanu auf. Die Aufnahmen wurden von der Organisation Survival International, die sich international für den Schutz indigener Gesellschaften einsetzt, veröffentlicht.
Die Organisation führt das Auftauchen der Mashco Piro auf die Abholzung zurück, die schon seit Jahren an ihr Gebiet angrenzend stattfindet – legal. Dies ist zwar nur eine der möglichen Erklärungen, doch Tatsache ist: Die Mashco Piro kommen ihren Nachbargesellschaften immer näher.
Diese Annäherung stellt die Mashco Piro vor diverse Bedrohungen – und Ethnologinnen und Ethnologen vor die heiss debattierte Frage: Soll man isolierte Indigene kontaktieren oder nicht?
Die Mashco Piro haben nicht immer so gelebt, wie sie heute leben – als nomadische Jäger und Sammler. Bis ins späte 19. Jahrhundert lebten sie in Dörfern, betrieben Landwirtschaft und waren in Handelsnetzwerke mit anderen ethnischen Gruppen eingebunden. Mit grosser Leidenschaft veranstalteten sie Wettkämpfe mit selbst hergestellten Kautschukbällen.
Doch das Material, das ihnen so Freude bereitete, wurde zum Untergang ihrer damaligen Lebensweise. Grund dafür war der berüchtigte Kautschukkönig, Carlos Fermin Fitzcarraldo, der 1894 in die Gegend einfiel, um Kautschuk zu zapfen. Unzählige Indigene wurden während des Kautschuk-Booms versklavt oder hingerichtet. Die Mashco Piro widersetzten sich der Sklaverei, hundert von ihnen wurden massakriert. Die Überlebenden flüchteten in den dichten Wald des Amazonas, liessen ihre Gärten zurück und lebten fortan als Nomaden.
In den nächsten hundert Jahren vermieden sie jeglichen Kontakt und wiesen auch Annäherungsversuche benachbarter Gruppen zurück. Wer sich ihren Warnungen widersetzte, musste mit einem Pfeilregen rechnen.
Diese Tatsache bewog den Ethnologen Glenn Shepard dazu, 1996 die Bezeichnung «indigene Gruppen in freiwilliger Isolation» einzuführen. Zuvor wurden diese noch als «unkontaktiert» bezeichnet. Auf einem Ethnologie-Blog erklärt er:
Stattdessen hätten die Mashco Piro und andere Gruppen die anhaltende Isolation als bewusste Überlebensstrategie gewählt und sich aktiv den wiederholten Kontaktversuchen von Missionaren, Touristen, Filmteams und sogar wohlmeinenden indigenen Nachbarn widersetzt.
Ein grosser Schock war es, als Shaco Flores, ein Indigener der Matsigenka, 2011 von einem Mashco-Piro-Pfeil erschossen wurde. Während fast 30 Jahren hatte er sich um eine vorsichtige, friedliche Kommunikation aus der Distanz bemüht und ihnen immer wieder Essen und andere Güter hinterlassen. Sein Tod sorgte für Fragezeichen. Einige vermuten, dass es innerhalb der Mashco Piro Uneinigkeit bezüglich des Kontaktes mit Aussenstehenden gegeben haben könnte. Andere glauben, es könnte an der Kontaktpause liegen, die Flores auf Wunsch der Behörden eingelegt hatte.
Flores war aber nicht der Einzige, der Kontakt mit den Mashco Piro pflegte: Damian (sein Name wurde zu seinem Schutz geändert), ein indigener Yine – eine Nachbarsgemeinschaft der Mashco Piro –, erzählte 2019 gegenüber der spanischen Zeitschrift El País von seiner speziellen Beziehung mit den Mashco Piro. Jeden Sommer, wenn der Wasserpegel sinkt, bewegen sich die isolierten Menschen zu den Stränden, wo sie Schildkröteneier sammeln (eine weitere Erklärung für das kürzliche Auftauchen der Mashco Piro am Fluss). Dort, aus sicherer Entfernung, so Damian, tauschten sie sich vorsichtig mit ihm aus, gaben aber keine Details darüber preis, wo und wie genau sie lebten. Dass ihre Lebensweise bedroht ist, ist aber klar. Junge Mashco Piro hätten ihm erzählt, wie sie um einen riesigen Baum getrauert hätten, der von illegalen Holzfällern gefällt wurde. Sie hatten sich von seinen Früchten ernährt.
Trotz ihrer grossen Vorsicht und Abneigung gegenüber Fremden wagen sich die Mashco Piro seit den letzten 15 Jahren vermehrt aus den dichten Wäldern. Im August 2013 tauchten sie auf der anderen Flussseite eines Dorfes auf und baten um Nahrung und andere Handelswaren. Manchmal werden sie aber auch von Touristen und Missionaren kontaktiert.
Am 6. September 2014 wurden einige Touristen und eine indigene Frau dabei fotografiert, wie sie Mashco-Piro-Kindern Kleidung und Nahrungsmittel übergaben. Der Ethnologe Glenn Shepard schrieb wenige Tage später auf seinem Blog:
In Peru verstösst die Kontaktaufnahme mit freiwillig isolierten Gruppen gegen das Gesetz. Die Ansteckungsgefahr für Krankheiten, gegen die sie nicht immun sind, ist zu hoch, zudem soll der Wille der Leute respektiert werden. Lange unterstützten Ethnologinnen und Ethnologen diese «Lasst sie in Ruhe»-Gesetze. In den letzten zehn Jahren aber begann der Wind bei vielen von ihnen allmählich zu kehren.
Die Ethnologen Kim Hill und Robert S. Walker waren 2015 die Ersten, die sich öffentlich gegen den Kein-Kontakt-Ansatz aussprachen. Ihr Editorial im Science-Magazin sorgte in indigenen Organisationen, Menschenrechtsgruppen und der Akademie für eine Welle der Entrüstung.
Der Kein-Kontakt-Ansatz beinhalte zwei implizite Annahmen, erklärten die beiden Autoren in ihrem Aufsatz. Die eine lege nahe, dass isolierte Populationen langfristig überlebensfähig seien und die andere, dass sie sich auch für die Isolation entscheiden würden, wenn sie umfassend informiert wären – das heisst, wenn sie wüssten, dass der Kontakt nicht zu Massakern führen würde, wie dies im späten 19. Jahrhundert der Fall war.
Hill und Walker hinterfragen beide Annahmen. Sie schätzen die Überlebenschancen der isolierten Gemeinschaften angesichts der Gefahren von Bergbau und der Abholzung als gering ein. Zudem basiere die Isolation gemäss Interviews mit indigenen Gruppen auf der Angst vor Sklaverei oder Massakern, so die Ethnologen.
Ihre Schlussfolgerung:
Konkret soll eine Regierung – mit Fachleuten und einem sehr gut organisierten Plan – Kontakt mit isolierten Gemeinschaften aufnehmen. Die Sterblichkeit könne «gleich Null» sein, wenn das Kontaktteam rund um die Uhr medizinische Betreuung und Lebensmittel anbiete, so die Autoren. In Kürze:
Sie gehen sogar so weit, den Regierungen Vernachlässigung vorzuwerfen, sollten diese keine Massnahmen zur Kontaktaufnahme ergreifen:
In einer 2016 veröffentlichten Studie weisen sie zudem darauf hin, dass viele der von ihnen beobachteten isolierten Gruppen kaum oder kein Wachstum mehr verzeichneten. In solchen Fällen sei ein kontrollierter Kontakt der letzte Weg, die Gruppen vor dem sicheren Aussterben zu retten.
2019 betonte Hill gegenüber dem Scientific American, dass der Aufsatz das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit vor Ort sei. Wiederholt sei er während seiner Forschungen Gemeinschaften begegnet, die von Hunger, Brutalität und einem unruhigen Leben auf der Flucht berichteten. Diese Geschichten hätten seinen frühen Idealismus zerstört. Im Gespräch mit dem «Scientific American» greift er zu deutlicher Sprache:
Schutz sei bloss eine Illusion. Indem man die Gemeinschaft davon abhalte, transparente Informationen zu sammeln, habe man keine Ahnung, was wirklich mit ihr passiere. Und Hill ist sich sicher:
Dieser Idealismus vom Schutz isolierter Gemeinschaften ist aber in weiten Kreisen präsent: Der Kein-Kontakt-Ansatz wird in den Medien und sozialen Medien immer wieder von Menschenrechtsorganisationen und besorgten Individuen mit «Lasst sie in Ruhe»-Kommentaren bestärkt. Wie Hill erklärt, hätten er und Walker für ihren Aufsatz sogar Todesdrohungen erhalten. Walker hat sich daher entschlossen, nicht mehr öffentlich über dieses Thema zu sprechen.
Auch der Ethnologe Glenn Shepard, der seit Jahrzehnten im Amazonas forscht, hat sich einst für den Kein-Kontakt-Ansatz eingesetzt. Über 20 Jahre lang hätten er und viele andere den peruanischen Staat dazu aufgefordert, die freiwillige Isolation von Gemeinschaften wie den Mashco Piro zu respektieren, schrieb er 2016 in einem Paper. Diese Aufrufe seien allerdings ungehört geblieben.
Heute rücken die letzten Gebiete der isolierten Gemeinschaften immer näher an die Kreisläufe der kapitalistischen Ausbeutung. Mit schrumpfenden Lebensräumen konfrontiert, suchen sie immer häufiger Nachbargemeinschaften auf und bedrohen diese sogar, um an Nahrung und begehrte Handelsgüter zu gelangen.
Angesichts dieser Tatsachen, so Shepard, erscheine es naiv, «auf einer idealistischen Politik des Kontaktverbots zu bestehen, die nicht anerkennt, dass der Kontakt bereits stattfindet». Die Ansteckung durch tödliche epidemische Krankheiten wie Grippe, Masern und Keuchhusten droht trotz offiziellem Kontaktverbot.
Die Absichten hinter den «Lasst sie in Ruhe»-Slogans seien natürlich edel, so Glenn Shepard. Dennoch seien sie oftmals zu vereinfachend und würden der komplexen, sich schnell verändernden Situation nicht gerecht. Zudem neigten sie dazu, die Isolation als einen «unberührten, natürlichen, unverfälschten Zustand» zu romantisieren. Als die letzten autonomen, freien Völker des Planeten – jenseits der Klauen des Kapitalismus, jenseits organisierter Religion und jenseits von Staaten.
Er führt aus:
Oft wird einfach angenommen, dass die isolierten Indigenen gar keinen Kontakt wollen. Doch wie Hill und Walker 2016 betonen, tauchen die Indigenen nicht zuletzt wegen menschlichen Bedürfnissen aus der Isolation auf:
Doch im Fall der Mashco Piro – und anderen isolierten Indigenen – ist das mit diversen Herausforderungen verbunden.
Was nach dem ersten Kontakt passieren kann, zeigt das Beispiel der Isconahua, einer indigenen Gemeinschaft in Ost-Peru. Vor etwa 60 Jahren wurden sie von einer US-amerikanischen evangelischen Gruppe kontaktiert und mit Kanus aus den Tiefen des Amazonas in Dörfer gebracht. Viele starben an Krankheiten, gegen die sie nicht immun waren.
Vom Kontakt haben die Überlebenden nicht wirklich profitiert: Heute fallen sie noch immer in die Kategorie der «Indigenen Völker mit Erstkontakt». Wie die spanische Zeitung «El País» schreibt, hätten sie kein politisches Mitspracherecht – alleine der Staat ist für das Wohlergehen dieser Gemeinschaften verantwortlich. Bisher hat er aber noch keine Politik entwickelt, um sicherzustellen, dass die Kultur nach der Kontaktaufnahme erhalten bleibt. Weil die Isconahua nach der Umsiedlung vor 60 Jahren ihre indigene Sprache aufgeben mussten, befindet sich diese kurz vor dem Aussterben. Heute gibt es nur noch eine einzige Sprecherin, etwa 75 Jahre alt, die einem Linguisten in einem Wettlauf gegen die Zeit ihre Sprache beibringt, damit sie nicht für immer verloren geht.
Der junge Felix Ochavano erklärt gegenüber «El País»:
Dieser Umgang mit freiwillig isolierten Gemeinschaften ist bezeichnend: Ein Video freiwillig isolierter Menschen taucht auf und das globale Interesse ist geweckt. William Ochavano, Felix' älterer Bruder, beschreibt treffend:
Es gebe viele, die sie als Objekte linguistischer und anthropologischer Forschung analysiert hätten. Doch auf politischer Ebene erhalten sie kaum Unterstützung. Es gebe nur wenige, die sich um ihre Gesundheit, Bildung, Beschäftigung oder politische Vertretung kümmerten, klagt William.
Damian, der Yine-Indigene, weiss aus Gesprächen, dass sich Überlebende von erzwungenem Kontakt ein Leben lang fragten, weshalb man sie aus dem Wald gelockt habe, nur um sie im Stich zu lassen.
Genau dort liegen die Schwierigkeiten des kontrollierten Kontakts.
Gegenüber dem «Scientific American» sprach sich Kim Hill für kontrollierten Kontakt aus und begründete dies mit den «erbärmlich unfähigen und korrupten Regierungen», welche die Indigenen nicht genügend schützten. Mit einem kontrollierten Kontakt, geleitet von Fachleuten, kann zwar das Risiko von Krankheiten minimiert werden, doch was folgt danach? Nach dem Erstkontakt geht die Verantwortung wieder an dieselben «erbärmlich unfähigen und korrupten Regierungen der Dritten Welt» über. Die Kontakt aufnehmen ist ein einmaliger – extrem herausfordernder und risikobehafteter – Prozess. Das Kontakt halten eine lebenslange Aufgabe.
Die Lösung des kontrollierten Kontakts ist vom Idealismus ebenso wenig gefeit wie diejenige des Vermeidens von Kontakt. Die Annahme, dass sich die Staaten nach der Kontaktaufnahme angemessen um die kontaktierten Gemeinschaften kümmern, ist illusorisch und hat sich bereits in der Vergangenheit als ungenügend herausgestellt. Kontrollierter Kontakt müsste voraussetzen, dass sich der Staat und die indigene Gemeinschaft auf Augenhöhe begegnen und dass nach der Kontaktaufnahme eine Vereinbarung möglich ist, welche das Interesse der Indigenen berücksichtigt. Doch das Machtgefälle beim Aufeinandertreffen dieser zwei Welten ist riesig – und die indigenen Stimmen sind auf dem Weg zur kapitalistischen Ausbeutung des Amazonas bloss ein Störfaktor, den es zu beseitigen gilt.
Umso mehr muss für den Schutz der isolierten Indigenen an zwei Fronten gekämpft werden: Die ausufernde Abholzung muss aufhören und für besonders bedrohte isolierte Gruppen müssen Pläne für kontrollierte Kontakte ausgearbeitet werden. Nebst beträchtlichen finanziellen Mitteln und qualifizierten Fachleuten, so Hill und Walker, sei dafür insbesondere politisches Gewicht erforderlich. Dieses müsse den vielen mächtigen wirtschaftlichen Kräften widerstehen, die kein Interesse am Schutz indigener Gemeinschaften haben.
Hill und Walker betonen: