Es fällt schwer, die Szene mit dem gebührenden Ernst zu würdigen: Putin sitzt an seinem Tisch, irgendwo seitlich von ihm im Raum sitzen zwei hochdekorierte Militärs. Putin gibt bekannt, er würde jetzt die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen und die Uniformierten nicken dazu. Russlands Aussenminister Lawrow spricht vom Weltkrieg: «Im Krieg tut man dann, was man im Krieg tun muss.»
Seit es diese Waffe gibt, hängt die Atomdrohung in der Luft. Jedermann weiss, dass die Arsenale zur globalen Vernichtung mehr als ausreichen. Einen grösseren Schrecken kann man nicht verbreiten. Gleichzeitig ist allen Militärs klar, dass die Atomwaffe die sinnloseste Waffe ist. Mit der Nuklearwaffe kann man nur drohen. Ihr Nichteinsatz soll wirken.
Das erzeugt eine höchst fragile Situation und führt zu absurden Folgen: Wer mit der Atomwaffe droht, muss - um glaubwürdig zu bleiben - gleichzeitig den Schein der Unberechenbarkeit verbreiten. Denn ein vernünftig Kalkulierender wird sie nicht einsetzen.
Die Kriege seit 1945 wurden unterhalb der atomaren Schwelle geführt. Die grosse Ausnahme war die Kuba-Krise 1962. Hier traten sich die USA und die Sowjetunion offen gegenüber. Und deshalb stand die Welt damals «auf der Schwelle zum Atomkrieg», schrieb die Historikerzunft später. Tatsache ist, dass die Angst vor einem Atominferno gross war. Wie gerechtfertigt sie war, ist ein anderes Kapitel. Ist die Angst heute gerechtfertigt? Was kann uns die Kuba-Krise heute lehren?
Es gibt Parallelen. Die Atommächte Russland und die Nato stehen sich gegenüber. Damals wie heute spielt ein drittes, kleineres Land eine wichtige Rolle. Das ergibt die Dreierkonstellation: Russland mit Putin, die Sowjetunion mit Chruschtschow; die USA mit Präsident Biden, damals mit John F. Kennedy; und die Ukraine mit Präsident Selenski, damals Kuba mit Fidel Castro.
Auffällig sind die charismatischen Führerfiguren Castro und Selenski, die eine wichtige Rolle spielen, auch wenn ihre Länder geopolitisch nicht erstrangig sind. Aber sie sind durch mentale und ideologische Bindungen mit einer Schutzsupermacht verbunden: Kuba damals mit der Sowjetunion, die Klammer bildete der Sozialismus; Selenski mit dem Westen, die Klammer bilden die «westlichen Werte».
Die Ausgangslage damals: Die USA scheinen konfliktscheu, Chruschtschow kann seine Position verbessern und das Renommee der Sowjetunion aufwerten und kommt auf die Idee, «Uncle Sam einen Igel in die Hose zu stecken». Die Sowjetunion startet die «Operation Anadyr»: Nebst anderem Militärgerät und Truppen sollen Mittelstreckenraketen mit atomaren Gefechtsköpfen auf Kuba stationiert werden, welche Städte in der USA bedrohen können. Die Operation soll geheim bleiben, bis die Sowjetunion mit Kuba ein Militärabkommen geschlossen hat.
Die US-Aufklärung aber deckt die Sache auf. U2-Überflüge liefern die Beweise. Es kommt zur Krise. Wie werden die USA reagieren? Vier Szenarien wurden vorgeschlagen: gezielte Bombardierungen der Abschusseinrichtungen, gross angelegte Luftangriffe auf Kuba, eine Invasion der Insel oder eine Blockade.
Die Hardliner im «Excomm», dem Gremium, das Präsident Kennedy während der Oktobertage 1962 beriet, wollten eine Invasion. Einen Atomkrieg mit der Sowjetunion solle man riskieren. Die Losung lautete:
Die offizielle Darstellung, die unter anderem der Präsidentenbruder Robert F. Kennedy in seinem Buch «Thirteen Days» lieferte, ging so: Weil die US-Regierung die Nerven nicht verlor und gleichzeitig hart blieb, hatte die Blockade, die man letztlich beschloss, Erfolg: Die Sowjets zogen ihre Waffen wieder ab. Die Welt atmete auf. Es ist bis heute ein grosser Erfolg der Kennedy-Brüder. Sie haben den Atomkrieg verhindert. Und die Lehre, die man aus der offiziellen Darstellung zieht: keine Kompromisse mit Aggressoren, die haben noch nie einen Krieg verhindert. Das Echo von München 1938.
Der Wert einer Lehre für heute bleibt allerdings beschränkt. Denn eigentlich muss man fragen: Wer ist wer? Heute ist Putins Russland der Aggressor, die Nato der Verteidiger der Ukraine. Entgegen der offiziellen Darstellung war die Situation 1962 leicht anders: Im April 1961 versuchte die CIA ein Regime-Change in Kuba, die «Brigade 2506», die vor allem aus Exil-Kubanern bestand, scheiterte aber mit ihrem Invasionsversuch in der Schweinebucht und geriet in Gefangenschaft.
Es war ein verpfuschtes Unternehmen, die CIA gab Kennedy die Schuld, weil er weitergehende Luftschläge verweigerte.
Die aggressive US-Politik gegenüber Castro wurde 1962 weiter verfolgt. Man rechnete sogar damit, dass die Sowjets etwas für Kuba tun könnten. Die USA wurden 1962 keineswegs «auf dem falschen Fuss» erwischt. Die Kuba-Krise wurde so zu einer Konfrontation von drei gefährlichen Egos: Kennedy wollte die Schweinebucht-Schmach rächen, Chruschtschow das Standing der Sowjetunion aufwerten und Castro geriet in einen Rausch: Er rief Chruschtschow zum Atomkrieg auf, dies sei die Gelegenheit, den Imperialismus ein für alle Mal auszurotten.
So gesehen, müsste man die Parallele anders ziehen: Kennedy ist Putin, Chruschtschow der Verteidiger des «Kleinen» - und die Atomdrohung steht so in einem ganz anderen Zusammenhang. Dass die USA gegenüber Kuba ähnliche «Patronats»-Vorrechte geltend machten wie Russland gegenüber der Ukraine, passt ebenfalls nicht recht.
Was man behalten kann: Die Kuba-Krise wurde letztlich auf der Basis eines geheimen Kompromisses gelöst. Heute weiss man: Chruschtschow sah ein, dass er sich verrannt hatte, und wollte nur noch hinaus. Vor der atomaren Konfrontation schreckte er zurück. Als Offizier des Zweiten Weltkriegs verabscheute er den Krieg. Gegen die - nicht schriftlich abgegebene - Garantie, man würde Kuba nicht angreifen, ordnete er den Rückzug an.
Eine Pointe - offiziell nicht Bestandteil des Kompromisses - bildet der Abzug der Jupiter-Mittelstreckenraketen der Nato aus der Türkei. Dieses Zugeständnis sollte geheim bleiben. Darauf bestanden nicht zuletzt die Kennedys. Ob aus Rücksicht gegenüber dem Nato-Partner Türkei oder weil man den Härte-Mythos nicht gefährden wollte, muss offen bleiben. Militärisch war die Sache ohnehin klar, die Jupiter-Raketen sollten durch Polaris-U-Boote ersetzt werden. Die Egos spielten auch eine Rolle, als sich Castro weigerte, Inspektionen auf der Insel zuzulassen. Es brauchte sie nicht, die Raketen und Sprengköpfe wurden Luftaufklärern auf den Schiffen gezeigt und die veralteten IL-28-Bomber waren eigentlich aus den Beständen der Roten Armee bereits ausgemustert.
Das Gefährlichste an der atomaren Drohung sind unvorhergesehene Dinge oder Pannen. Eine mangelhaft abgesprochene Einsatzdoktrin (Wer gibt letztendlich den Befehl zum Abschluss? Das Militär irgendwo in seiner Befehlskette oder die Politik?) hatte damals zeitweilig sogar zur Folge, dass man befürchten musste, ein überforderter (kubanischer) Kommandeur könnte in die Lage kommen, eine taktische Atomwaffe einzusetzen. Oder was passiert bei einem versehentlichen Abschuss eines Spionageflugzeugs?
Wer ausweicht, hat verloren - er ist ein «Chicken», ein Feigling. Bleiben beide stur, kommt es zur Katastrophe. Die können beide nicht wollen, aber weil es eine Sache des Egos ist, ist es ein gefährliches Spiel. Und man kann Finessen hinzufügen: Wenn zum Beispiel einer der Teilnehmer vor dem Rennen öffentlich die Steuerung blockiert oder die Bremse unbrauchbar macht ...
Aber man sollte die Gefahr einer Ausweitung des Konfliktes ja nicht unterschätzen.
Die Ausweitung ist für mich denn auch die reellere Gefahr als der Atomkrieg. Ich könnte mir vorstellen, dass Putin seine Idee durchzieht, mitunter auf der Suche nach einem sichtbaren Erfolg, den er bis dato überhaupt nicht vorweisen kann.
Putin hat so viele rote Linien überschritten, dass wird immer unberechenbarer.