Wladimir Putin hatte das Dokument zum «Anschluss» von vier ukrainischen Regionen an Russland am letzten Freitag kaum unterzeichnet, da war es schon teilweise Makulatur. Keine 48 Stunden später vermeldete die ukrainische Armee die Rückeroberung der strategisch wichtigen Stadt Lyman. Seither dringt sie offenbar weiter Richtung Luhansk vor.
Am Montag folgte aus Sicht des russischen Aggressors der nächste Tiefschlag. Ein Armeesprecher musste zugeben, dass den Ukrainern an der Südfront in der Region Cherson ein vielleicht entscheidender Durchbruch gelungen war. Bei den Hardlinern und Kriegshetzern in Russland machen sich Ratlosigkeit und offene Wut breit.
Vor zu viel Optimismus sollte man sich in diesem Krieg hüten, aber derzeit spricht einiges für weitere Erfolge der Ukrainer auf dem Schlachtfeld, trotz der russischen «Teilmobilmachung». Damit verbunden aber ist die Furcht, dass ein in die Ecke gedrängter Putin irgendwann vor nichts mehr zurückschrecken und den Einsatz von Atomwaffen befehlen wird.
Die Scharfmacher drohen offen damit. Putin selbst hat ihn mehrfach angedeutet und betont, er bluffe nicht. Das kann nicht banalisiert werden. Man muss den Präsidenten beim Wort nehmen. Allerdings sprach Putin «nur» von «allen vorhandenen Mitteln, um russisches Territorium zu verteidigen». Eine direkte Drohung mit der Bombe hat er vermieden.
In seiner vor Hass auf den Westen und besonders die USA triefenden Annexions-Rede bezeichnete er die Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als «Präzedenzfälle». Bislang bedeuteten sie einen stillschweigenden Konsens unter den Atommächten, die Bombe nie wieder einzusetzen, da dies zur Vernichtung der Menschheit führen könnte.
Die Angst vor diesem Horrorszenario entfaltete eine abschreckende Wirkung, auch während der Kubakrise vor genau 60 Jahren, als die Welt so nahe am atomaren Abgrund stand wie nie zuvor und danach. Selbst Putin schreckte davor zurück, neue rote Linien zu ziehen oder offen mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen die Ukraine zu drohen.
«Er geht wahrscheinlich zu Unrecht davon aus, dass er die USA und ihre Alliierten durch sein nukleares Spiel mit dem Feuer dazu bewegen kann, die Ukraine zu Verhandlungen zu zwingen», heisst es in einer Analyse des Institute for the Study of War (ISW), eines unabhängigen Thinktanks in Washington. Tatsächlich schlug er einen Waffenstillstand vor.
Vom Tisch ist die Gefahr eines russischen Atomschlags damit nicht. Das Pentagon, nukleare Forschungslabore und Geheimdienste hätten mit Computersimulationen versucht, einen möglichen Ablauf zu modellieren, ebenso eine Reaktion der USA, schreibt die «New York Times». Einfach sei dies nicht, weil es eine Vielzahl an taktischen Atomwaffen gebe.
Auf solche dürfte es bei einer Eskalation hinauslaufen. Denn ein umfassender Angriff mit Interkontinentalraketen oder strategischen Bombern würde unweigerlich das «Doomsday»-Szenario auslösen und das will selbst ein Wladimir Putin nicht riskieren. Für den Einsatz taktischer Atomwaffen aber gibt es in der Tat diverse Optionen:
Der Kriegsverlauf hat gezeigt, dass die Ukraine und der Westen Russland materiell und taktisch überlegen sind. «Je genauer Putin weiss, dass Atomwaffen keine entscheidenden Folgen haben, sondern eine direkte konventionelle Militärintervention des Westens auslösen werden, umso weniger wird er sie einsetzen», lautet das Fazit der ISW-Analyse.
Der «alte», einigermassen rationale Wladimir Putin würde dies wohl einsehen. Ob das auch für den heutigen gilt, der zunehmend realitätsfremd wirkt und in Verschwörungstheorien abzudriften scheint, ist eine andere Frage. Man kann in diesem Fall wohl nur hoffen, dass es in der russischen Führung Leute gibt, die einen atomaren Albtraum verhindern können.
Putin’s Griff nach Nukes wäre sein letzter Griff. Diese Erkenntnis sollte sich dringend im Westen durchsetzen. Aber eben: Putin’s atomare Drohungen generieren mehr Clicks in den Medien.