Etwa zwölf Kilometer liegen zwischen Al-Tur in Ostjerusalem und der israelischen Siedlung Ma'ale Adumim im besetzten Westjordanland. Auf einem Stück Brachland dazwischen steht Jumana Jaouni. Die palästinensische Politikanalystin, 50, berät unter anderem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz; regelmässig zeigt sie internationalen Delegationen auf geopolitischen Touren das Voranschreiten der israelischen Besatzungspolitik. An diesem Sonntag im August hat sie die Fläche ausserhalb von Al-Tur vorgeschlagen, um den aktuellen Zustand des bisher umstrittensten Besatzungsprojekts zu illustrieren. «Das hier alles wird E1», sagt Jaouni und dreht sich einmal um die eigene Achse.
Mitte August hat Israels oberstes Bauamt erstmals mehr als 3'400 Wohneinheiten auf dem E1-Gebiet genehmigt. Das E steht für East und meint die völkerrechtlich illegale jüdische Besiedlung auf diesem 12 Kilometer breiten Streifen palästinensischen Gebiets. Das Ziel: Jerusalem – die seit dem Sechstagekrieg 1967 vollständig von Israel kontrollierte Stadt, die auch die Palästinenser als Hauptstadt beanspruchen – auszudehnen, ein jüdisches Grossjerusalem zu schaffen. Der Plan stammt aus den 1990ern, wurde seitdem ausgeweitet von den immer radikaler werdenden Siedlern aus dem nationalreligiösen Spektrum.
Wenn E1 vollständig umgesetzt sei, werde ein eigener palästinensischer Staat unmöglich sein, sagte dazu kürzlich Israels rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich. «Durch das unerbittliche Vorantreiben dieses Projekts sabotiert die israelische Regierung jede Möglichkeit einer politischen Lösung und zieht sowohl Israelis als auch Palästinenser in einen endlosen Kreislauf von Konflikten», kritisierte die israelische Nichtregierungsorganisation Peace Now den Beschluss. Und Jumana Jaouni sagt: «E1 ist nur das letzte Puzzleteil eines seit Jahren vorbereiteten Prozesses.»
Das Stück Brachland, so gross vielleicht wie ein Fussballfeld, hat Jaouni ausgewählt, weil man von hier aus diesen Prozess sehen kann. Trockene Erde, aufgeschüttete Steine, und in unmittelbarer Nähe des Geländes verläuft die aktuelle Grenze zwischen Ostjerusalem und dem besetzten Westjordanland. Mit der grünen Linie, der Waffenstillstandslinie zwischen beiden Seiten von 1948, hat die nichts zu tun. Seit der Annexion Ostjerusalems dehnt sich die Stadt in kleinen Schritten immer weiter aus.
Der Grenzverlauf erscheint willkürlich, jedenfalls wenn man sich an den bisher sichtbaren Markierungen orientiert, an Mauern und Grenzübergängen. Auf südlicher Seite begrenzt die acht Meter hohe Besatzungsmauer das Gelände, trennt Ostjerusalem und die palästinensische Stadt Al Eizariyah im Westjordanland voneinander. Dazwischen gibt es den Grenzübergang Zaitoun, den ausschliesslich Bewohner aus Ostjerusalem zu Fuss überqueren dürfen, während Palästinenser ohne Aufenthaltsgenehmigung für Israel ihn nicht nutzen können.
Vielleicht 100 Meter weiter Richtung Osten verendet die Mauer in einer Art Unterführung. Darüber führt die mehrspurige Strasse Nummer 1. Folgt man wiederum ihrem Verlauf in Richtung Norden, erkennt man, dass es eigentlich zwei parallel verlaufende Strassen sind. «Israel nennt die Strasse die Fabric-of-Life-Road, die Palästinenser nennen sie die Segregationsstrasse», sagt Jaouni, zeigt auf ein schmales Detail, im glänzenden Tageslicht nur schwer zu erkennen. «Da ist etwas dazwischen, eine Mauer, die beide Strassen voneinander trennt.»
Kommt E1, bleibt die Strasse als einzige Verbindung zwischen Bethlehem im Süden und Ramallah im Norden, beides Zentren palästinensischen Lebens im Westjordanland. Gleichzeitig will Israel nicht, dass Palästinenser die Strasse gemeinsam mit Israelis nutzen ‒ offiziell aus Sicherheitsgründen. Deshalb wurde E1 im nördlichen Teil durch eine Mauer geteilt und somit eine separate Strasse für die Palästinenser geschaffen.
Im Mai nun genehmigte Israels Sicherheitskabinett den Ausbau dieser separaten Strasse. Wie die Zeitung Haaretz berichtete, rechtfertigte Verteidigungsminister Israel Katz das Vorhaben mit einem Terroranschlag am Checkpoint von Al Zay'im. Damals hatten nach Angaben der israelischen Polizei drei palästinensische Terroristen in zwei Autos mit automatischen Waffen auf vorbeifahrende Autos geschossen. Ein 26-jähriger Israeli wurde getötet, zehn Menschen wurden verletzt.
Auch den Checkpoint kann man vom Brachland aus sehen, höchstens 300 Meter entfernt. Dahinter beginnt die palästinensische Stadt Al Zay'im. Hochhäuser prägen dort das Bild, auf denen immer neue Aufbauten entstehen. Durch die ständigen Bauvorhaben, eine Unterführung hier, eine neue Strasse da, seien die palästinensischen Orte beschnitten und könnten nicht mehr in die Breite, nur noch in die Höhe wachsen, erklärt Jaouni. «Al Zay'im liegt mitten im E1-Gebiet und ist einer dieser palästinensischen Orte, die durch den Strassenausbau noch stärker isoliert werden.»
Alle drei palästinensischen Orte ‒ Al-Tur, Al Eizariyah und Al Zay'im – liegen wie die Spitzen eines Dreiecks um das Gelände herum. Dazwischen die Strasse 1 und weitere Strassen, von denen allerdings keine die eigentlich so nah beieinander liegenden Orte tatsächlich direkt und unkompliziert verbindet. Es wirkt, als seien sie nicht für reale Bedürfnisse gebaut, sondern um sie gezielt zu umgehen. Anders als die Siedlungen bräuchten die Strassen keine aufwendigen Genehmigungsverfahren, sagt Jaouni. Deshalb verstehe man lange ihren Sinn nicht, erst wenn die dazugehörige Siedlung ins Genehmigungsverfahren komme.
Etwa 50 Meter westlich des Brachlands fällt der Blick auf eine recht frische Baustelle. Am Ortsrand von Al-Tur graben sich Bagger tief in die Erde, oben Wohnhäuser und eine eigentlich funktionierende Verbindungsstrasse zum Checkpoint Zaitoun, unten ein grosses Sandloch. Was das werden soll, kann Jumana Jaouni nicht sagen, vielleicht eine Strasse, vielleicht ein Tunnel. Hat sie noch Hoffnung, dass sich die Entwicklung stoppen und E1 verhindern lässt? «Stoppen könnten das nur die USA, und die aktuelle Regierung hat deutlich gemacht, dass sie den Siedlungsbau nicht für problematisch hält.»
US-Botschafter Mike Huckabee etwa hatte Mitte August dem israelischen Armeeradiosender Galgalatz gesagt: «Ob es zu einer grossangelegten Bebauung in E1 kommen soll oder nicht, ist eine Entscheidung, die die israelische Regierung zu treffen hat, und daher würden wir nicht versuchen, dies zu bewerten.» Angesichts des fehlenden Widerstands aus den USA scheint Israels teils rechtsextreme Regierung jedenfalls alle Hemmungen zu verlieren, wenn es um die Landnahme palästinensischen Gebiets geht.
«Wenn dieser Prozess nicht gestoppt wird, was meiner Meinung nach sehr wahrscheinlich ist, dann ist das hier meiner Meinung nach das Ende», sagt Jaouni und schaut noch einmal über das Brachland: «Wir werden einen Ein-Staaten-Apartheidstaat Israel haben.»
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Alle anderen Erklärungsversuche führen nur zum Schluss, dass das den Konflikt nur weiter anheizt, zementiert und weitere unschuldige Opfer auf beiden Seiten fordert.