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Interview

Russland-Kenner kritisiert Europa und die Schweiz wegen Ukraine-Krieg

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Joe Biden fand warme Worte für Wolodymyr Selenskyj, zögerte aber bei der militärischen Unterstützung.Bild: keystone
Interview

«Die Biden-Regierung wollte nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt»

Der Russland-Kenner Keir Giles übt harte Kritik an Europas Einstellung gegenüber der Bedrohung aus Moskau. Die Schweiz verschont er nicht. Im Interview schildert er, warum sich der Ukraine-Krieg hinziehen dürfte. Und China langfristig gewinnen könnte.
01.11.2025, 09:3301.11.2025, 13:19

Donald Trump hat Sanktionen gegen die Ölkonzerne Lukoil und Rosneft verhängt. Bedeutet dies, dass er die Geduld mit Wladimir Putin verliert?
Keir Giles:
Es ist ein ermutigendes Zeichen. So etwas hat er noch nie gemacht. Ob er die Sanktionen wie angekündigt nach dem 21. November durchziehen wird, ist eine offene Frage. Wir müssen abwarten und bedenken, dass er es in früheren Fällen nicht getan hat.

Die Russen haben einen Sondergesandten nach Washington geschickt. Sie sind offensichtlich besorgt.
Das sollten sie auch sein, denn das hat es noch nie gegeben. Aber sie haben Grund anzunehmen, dass Trump seine Zurückhaltung doch nicht aufgeben wird.

Keir Giles
Der 57-jährige Brite analysiert seit über 20 Jahren die Bedrohung durch Russland. Er arbeitet bei der Londoner Denkfabrik Chatham House und ist Direktor des Conflict Studies Research Centre. In Zürich weilte er auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (Siaf).
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Bild: ho

Immerhin scheinen auch China und Indien besorgt zu sein.
Indien scheint sofort reagiert zu haben und sich auf eine Einführung der Sanktionen am 21. November vorzubereiten. China dagegen nicht. Energie-Ökonomen vermuten, dass, selbst wenn die grossen chinesischen Importeure weniger russisches Öl einführen würden, die kleineren Akteure weiterhin die nötigen Volumen liefern könnten. Dies würde einen substanziellen, aber keinen katastrophalen Einfluss auf die russische Wirtschaft haben.

Sofern Trump die Sanktionen einführt. Bislang hat er sich von Putin manipulieren lassen und nach jedem Gespräch dessen Sichtweise übernommen.
Genau. Es ist ein sehr repetitiver Zyklus. Wir haben das zuletzt beim Besuch von Wolodymyr Selenskyj im Weissen Haus erlebt.

Haben Sie eine Ahnung, warum sich Trump von Putin vorführen lässt?
Das werden wir wohl nie wirklich erfahren. Es sei denn, dass irgendwann die KGB-Archive in Moskau wieder geöffnet werden. Es wurden dicke Bücher darüber geschrieben, warum sich Trump so unterwürfig gegenüber Putin verhält. Aber wir haben keine konkreten Antworten. Die Amerikaner hätten während der Untersuchung von Sonderermittler Robert Mueller die Möglichkeit gehabt, die richtigen Fragen zu stellen. Doch sie haben es vermasselt.

Es gibt viele Spekulationen zu diesem Thema.
Es könnte um Erpressung gehen, finanzielle Interessen, ideologische Sympathie oder Trumps gestörte Persönlichkeit. Aber letztlich ist das egal, denn im Endeffekt erreicht Russland in den USA alle aussen- und innenpolitischen Ziele, die man angestrebt hat, und zwar nicht erst seit dem Ende des Kalten Kriegs, sondern seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Russen erhalten Dinge von den Amerikanern, die sie sich in den wildesten Träumen nicht vorstellen konnten. Jetzt werden sie ihnen auf dem Silbertablett serviert.

«Die Biden-Regierung liess sich von der russischen Kampagne einschüchtern, wonach eine Lieferung katastrophale Folgen hätte.»
Keir Giles

Ist es vielleicht ein Hoffnungsschimmer, dass sich Trump nach jedem Gespräch mit Putin schneller von dessen Position entfernt?
Trump übernimmt jeweils die Ansichten der letzten Person, mit der er gesprochen hat. Und die kommt viel zu oft aus Russland.

Selenskyj hofft auf Tomahawk-Marschflugkörper. Soll Trump sie ihm geben?
Selbstverständlich. Die Vereinigten Staaten hätten sie der Ukraine schon lange geben sollen. Aber sie wollten nicht. Die Biden-Regierung liess sich von der russischen Kampagne einschüchtern, wonach eine Lieferung katastrophale Folgen hätte. Nach dieser Lesart wäre eine russische Niederlage gefährlicher als die Zerstörung eines russischen Nachbarlandes. Unter Trump gibt es ganz andere Einschränkungen. Er will Wladimir nicht verärgern.

Joe Biden war zu zögerlich bei der Unterstützung der Ukraine?
Ja, aus den komplett falschen Gründen. Man betrachte nur die Angriffe der Ukraine auf Ölraffinerien, die der russischen Wirtschaft schaden und den Krieg nach Russland tragen. Die frühere US-Regierung hatte die Ukraine davon abgehalten, sobald sie feststellte, dass es eine effiziente Strategie war. Sie wollte nicht, dass die Ukraine den Krieg gewinnt!

epa12303548 US President Donald Trump (R) welcomes Russian President Vladimir Putin during their meet to negotiate at Joint Base Elmendorf-Richardson in Anchorage, Alaska, USA, 15 August 2025. EPA/GAV ...
Wladimir Putin und Donald Trump beim Gipfeltreffen in Alaska.Bild: keystone

Das ist ein sehr harter Vorwurf.
Er tönt hart. Man ist sich nicht gewohnt, dass die US-Politik in derartigen Worten geschildert wird. Aber wenn man genau hinschaut, ist es so.

Die jüngsten Nachrichten von der Front in der Ukraine sind nicht positiv. Wie beurteilen Sie das?
Sie sind für beide Seiten nicht gut. Die Russen wühlen sich unter enormen Verlusten nach vorn, und die Ukrainer fallen zurück und versuchen, den Russen so hohe Verluste wie möglich zuzufügen. Beide Seiten scheinen ihre Strategie für erträglich zu halten. Gleichzeitig erleben wir Nacht für Nacht die Tötung ukrainischer Kinder mit Raketen und Drohnen. Die Kosten sind enorm, weil weder die Koalition hinter Russland noch jene hinter der Ukraine genügend Unterstützung liefert, um ihrer Seite einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen.

Putin attackiert auch die Energie- und Heizungsinfrastruktur in der Ukraine. Er versucht, die Bevölkerung zu zermürben.
Es ist Russlands Strategie, die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft zu untergraben, indem man ihre verwundbarsten Mitglieder angreift. Sie steht in den russischen Handbüchern und ist Teil ihrer militärischen Denkweise. Nur äussert sie sich nicht im Detail zur Frage, was im Fall eines Scheiterns passiert. Und sie ist bislang Winter für Winter gescheitert, weil die Ukrainer für ihr Überleben als Nation kämpfen. Das stärkt ihre Resilienz, denn sie haben keine andere Wahl. Umgekehrt durchkreuzt es die Rechnung der Russen. Und es verlängert den Krieg und die Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es bald zu einer Lösung kommen wird.

Viele haben wohl fast schon vergessen, dass Putin am Anfang dachte, er würde diesen Krieg in ein paar Tagen gewinnen.
Das wird oft behauptet. Das Problem ist nur, dass Putin nicht von einem Krieg ausging. Die russische Propaganda vermittelte damals den Eindruck, es werde keinen Widerstand geben.

«Beide Seiten bauen tausende Drohnen pro Tag. Der Unterschied ist, dass die Ukrainer Infrastruktur und militärische Ziele angreifen und die Russen die verwundbarsten Mitglieder der Zivilbevölkerung.»
Keir Giles

Die Russen dachten, sie würden in der Ukraine mit Rosen empfangen. Stattdessen gab es Molotow-Cocktails.
Wir sollten nicht vergessen, dass zwar der Angriff auf Kiew abgewehrt wurde, die Russen jedoch in der südlichen Ukraine grosse Geländegewinne erzielt haben. Und das enorm schnell. Es war nicht so, dass Russland komplett zurückgeschlagen worden wäre. Dieser Teil des russischen Plans hatte Erfolg. Aber jener im Norden war ein Fehlschlag.

Heute baut die Ukraine tausende Drohnen pro Tag und attackiert russisches Territorium immer erfolgreicher. Das deutet nicht auf ein baldiges Kriegsende hin.
Beide Seiten bauen tausende Drohnen pro Tag. Der Unterschied ist, dass die Ukrainer Infrastruktur und militärische Ziele angreifen und die Russen die verwundbarsten Mitglieder der Zivilbevölkerung. Also Kindergärten, Geburtskliniken und Schulen.

Wie beurteilen Sie die Stärke des russischen Militärs?
Es gibt sehr unterschiedliche Einschätzungen. Sie reichen von einem Extrem zum anderen. Entweder ist sie übermächtig und unterwirft die Ukraine in drei Tagen. Oder sie ist nur eine Woche später eine vollkommen korrupte Armee, die sich nicht einmal richtig bewegen kann und keine funktionierende Logistik hat. Die Wahrheit liegt immer irgendwo dazwischen. Derzeit sehen wir, dass die Russen in ihre kulturelle Komfortzone zurückgefallen sind.

FILE - People walk past a billboard displaying a soldier and a Russian flag and reading 'We believe in our army and our victory' in Luhansk, Luhansk People's Republic controlled by Russ ...
Russisches Propagandaplakat in der besetzten Region Luhansk.Bild: keystone

Was meinen Sie damit?
Sie behandeln Menschen als am meisten entbehrliche militärische Ressource. Offenbar haben sie immer noch genügend Manpower, um sie als Kanonenfutter gegen die Ukraine einzusetzen. Solange dies der Fall ist, werden sie an der Front Fortschritte machen.

Sie sprechen in Zürich über die Stärkung der westlichen Verteidigung gegen Russland …
… darüber gibt es sehr viel zu erzählen (lacht) …

… und sind sehr kritisch gegenüber Ländern im westlichen Europa. Sie hätten die von Russland ausgehende Gefahr immer noch nicht erkannt.
Einige tun das, aber es besteht ein Unterschied zwischen Realisieren und Handeln. Dies geschieht nicht so schnell, wie es nötig wäre. Es gibt Länder, die in zehn Jahren kampfbereit sein wollen. Gleichzeitig gibt es Einschätzungen, wonach Russland in einem oder zwei Jahren loslegen könnte. Dieses Missverhältnis ist alarmierend für alle, die hinschauen.

Polen scheint die Gefahr erkannt zu haben, und trotzdem war man komplett unvorbereitet, als russische Drohnen kürzlich in den Luftraum eindrangen.
Es bedeutet, dass man viel Geld für die Verteidigung aufwenden, aber auch den Output an die moderne Kriegsführung anpassen muss. Polen gibt Milliarden für die Armee aus und war trotzdem nicht in der Lage, einen kleinen Teil von dem abzuwehren, was die Ukraine jede Nacht erlebt. Daraus entsteht eine Diskrepanz in den Verteidigungsanstrengungen. Russland wird daraus lernen und dies sehr schnell an anderen Orten ausnützen.

«Seit rund zehn Jahren kennen wir die Bedrohung für den Luftverkehr durch zivile Hobby-Drohnen, dennoch wurden keine Mechanismen zur Schadensbegrenzung ergriffen. Das ist überaus verstörend und zeigt, was in der europäischen Verteidigung schiefläuft.»
Keir Giles

Es gibt Stimmen, wonach die Nato bei der Drohnentechnologie der Ukraine beitreten sollte und nicht umgekehrt.
Eindeutig. Die Ukraine macht innovative Fortschritte in einem Tempo, das für viele westliche Länder nicht nachvollziehbar ist.

In der Ukraine ist der Drohnenkrieg seit rund drei Jahren im Gang, doch selbst Nachbarländer scheinen die Tragweite nicht realisiert zu haben.
Es ist noch schlimmer. Denken Sie an die Drohnen, die die Flughäfen in Kopenhagen, Oslo und München lahmgelegt haben. Seit rund zehn Jahren kennen wir die Bedrohung für den Luftverkehr durch zivile Hobby-Drohnen, dennoch wurden keine Mechanismen zur Schadensbegrenzung ergriffen. Das ist überaus verstörend und zeigt, was in der europäischen Verteidigung schiefläuft.

Territorial defense officers clean up debris from the destroyed roof of a house, after Russian drones violated Polish airspace during an attack on Ukraine, in Wyryki near Lublin, Poland, Thursday, Sep ...
Polen gibt Milliarden für die Verteidigung aus und war dennoch nicht fähig, ein paar russische Drohnen abzuwehren.Bild: keystone

Nehmen wir an, die Russen stecken dahinter. Welchen Sinn haben solche Provokationen? Sie fordern die Europäer geradezu auf, endlich zu handeln.
Das wäre ein Nachteil. Aber es gibt unterschiedliche Einschätzungen, was Russland erreichen will. Man darf zu den russischen Absichten keine Entweder-oder-Fragen stellen, denn beides kann zutreffen. Russland kann herausfinden, wie gut ein bestimmtes Land vorbereitet ist. Und sich seinerseits auf aktivere Operationen vorbereiten, etwa Angriffe auf Logistik-Hubs, Cyberattacken auf Eisenbahnen, elektronische Kriegsführung gegen das GPS. Damit kann Russland im Vorfeld eines militärischen Vorgehens ein Nato-Mitglied oder ein anderes europäisches Land isolieren, ohne dass jemand eingreifen kann.

Als plausibles Szenario gilt ein russischer Angriff auf die estnische Grenzstadt Narwa mit russischsprachigen Einwohnern. Was halten Sie davon?
Das ist Unsinn. Es existiert seit Jahrzehnten und ist weit entfernt von der Realität. Es gibt viele andere Möglichkeiten, wie Russland den Zerfall der Nato herbeiführen könnte. Dies muss nicht unbedingt in den Staaten passieren, die sich an vorderster Front befinden.

Sie denken an die Drohnenvorfälle in Dänemark und Norwegen?
Nicht nur. Wir haben im Juni die Simulation eines Raketenangriffs auf das Vereinigte Königreich veröffentlicht. Aus russischer Sicht ist es wie Frankreich, Deutschland und Spanien ein Frontstaat. Es ist eine Kosten-Nutzen-Frage. Wie kann Russland den bestmöglichen Effekt erzielen und die eine Karte herausziehen, die das Kartenhaus zum Einsturz bringt? Das muss nicht unbedingt eines der kleinen Länder an der östlichen Peripherie sein. Es kann durchaus ein grösseres und für Europa wichtigeres Land treffen.

Wie würde die Nato darauf reagieren? Es bestehen Zweifel an der Bereitschaft, in einem solchen Fall Artikel 5 zu aktivieren, also die Beistandspflicht.
Das ist genau das Problem. Die Russen würden so etwas nur versuchen, wenn sie im Vorfeld überzeugt wären, dass die Nato versagt und ihre Raison d'être verliert. Wenn sie ihre Verpflichtung gegenüber einem angegriffenen Land nicht einhält, wird sie bedeutungslos. Das ist der Preis, den Russland erringen kann.

«Natürlich kann man ein Papier hochhalten mit der Aufschrift ‹wir sind neutral› und hoffen, dass es als Schutzschild gegen ballistische Raketen funktioniert.»
Keir Giles

Die Frage stellt sich trotzdem, warum Putin Europa angreifen sollte. Er bemüht sich, den Ukraine-Krieg von seinem Volk fernzuhalten und Normalität vorzutäuschen.
Diese Dinge schliessen sich nicht aus. Putin kann seinem Volk etwas sagen und etwas völlig anderes tun. Dafür gibt es viele Beispiele. Aber warum soll er Europa angreifen? Er hat seine Ziele sehr deutlich formuliert. Er will die Grenzen in Osteuropa neu definieren, um die historischen und strategischen Fehler der frühen Bolschewiken zu korrigieren. Er hat dies seinen Landsleuten am Vorabend der Invasion geschildert. Dieser Prozess ist im Osten der Ukraine bereits im Gang. Das Problem ist natürlich, dass Putins Pläne für neue Grenzen auch Länder betreffen, die Mitglied der Nato und der EU sind. Damit aber sind auch die übrigen Nato- und EU-Länder involviert und im Endeffekt alle europäischen Länder.

Also auch die Schweiz? Hier denken viele, dass Russland sie nichts angeht.
Es fragt sich, ob das noch der Fall sein wird, wenn Europa in Krieg und Chaos versinkt.

In einer aktuellen Umfrage bezeichnen nur zwölf Prozent der Befragten die Landesverteidigung als wichtige politische Herausforderung für die Schweiz.
Natürlich kann man ein Papier hochhalten mit der Aufschrift «wir sind neutral» und hoffen, dass es als Schutzschild gegen ballistische Raketen funktioniert.

Trotzdem tut sich sogar ein reiches Land wie die Schweiz schwer damit, genügend Geld für die Aufrüstung der Armee zu mobilisieren.
Die Vorstellung, dass es kein Geld gibt, trifft nicht zu. Das Geld ist vorhanden, auch in Ländern, die finanziell nicht so gut dastehen wie die Schweiz. Die Frage ist, wofür man es verwendet.

Bundesrat Martin Pfister schaut in das Cockpit eines F/A-18 Jet, bei einem Besuch in der Halle fuer die Wartung der F/A-18 Flugzeuge, waehrend einem Rundgang auf dem Militaerflugplatz Payerne, am Donn ...
Verteidigungsminister Martin Pfister will die Armee aufrüsten, doch die Bevölkerung ist skeptisch.Bild: keystone

Sie denken an Estland, ein kleines Land, das viel Geld für die Ukraine und für die Verteidigung ausgibt.
Dort versteht man, dass von westlichen Regierungen bevorzugte Themen wie Sozialstaat, Einwanderung oder Bildung irrelevant werden, wenn man die Verteidigung übersieht.

Welche Rolle spielt Putins Kriegswirtschaft? Es gibt Spekulationen, dass er sie gar nicht zurücknehmen kann und auch deshalb immer weiter machen muss.
Absolut. Es ist extrem schwierig, sich von einer militarisierten Gesellschaft, die sich im Krieg befindet, wieder zu entfernen. Dies erzeugt einen imminenten Anreiz, die Angriffe über die Ukraine hinaus fortzusetzen.

Immerhin scheinen die Europäer zu realisieren, dass sie etwas machen müssen.
Man darf Europa nicht generalisieren. Bei der Wahrnehmung der Bedrohung gibt es ein Gefälle von Nordost nach Südwest.

Die Spanier glauben, dass sie nichts zu befürchten haben.
Sie schauen auf die Landkarte und denken, es gebe viele Länder zwischen sich und Russland. Dabei übersehen sie, dass sie sich problemlos in Reichweite der russischen Bomber und Raketen befinden. Leider ist die Welt nicht flach (lacht).

epa12347499 Russian President Vladimir Putin, Kazakh President Kassym-Jomart Tokayev, Chinese President Xi Jinping and Uzbek President Shavkat Mirziyoyev arrive to attend a military parade marking the ...
Die Bromance von Putin und Xi Jinping könnte für den Russen schon bald unangenehm werden.Bild: keystone

Ein guter Punkt.
An der östlichen Peripherie Europas erinnert man sich daran, wie es ist, von Moskau beherrscht zu werden. Die Menschen sehen, wie sich dies mit der furchtbaren russischen Militäroperation in der Ostukraine wiederholt. Und dann gibt es Menschen am anderen Ende Europas, die keine Vorstellung davon haben, dass die Freiheiten, die Sicherheit, der Wohlstand und die Rechte, die sie geniessen, verteidigt werden müssen. Sie sind kein Selbstläufer. Langsam wächst das Bewusstsein für die Bedrohung, aber viele Politiker, besonders westlich von Warschau, haben auf kriminelle Weise vernachlässigt, dies ihrer Bevölkerung zu vermitteln.

Soll die EU die eingefrorenen 140 Milliarden Euro der russischen Zentralbank für die Ukraine einziehen?
Sie hätte dies längst tun sollen, wie so vieles andere. Es gibt detaillierte Gespräche und rechtliche Argumente über die Vorteile und Nachteile. Letztlich geht es wieder einmal um die Wahl zwischen Gesetz und Gerechtigkeit. Das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.

Reden wir noch über China, Putins wichtigsten Unterstützer im Ukraine-Krieg.
China hat den Luxus, sich zurücklehnen und zuschauen zu können, wie sich Russland und der Westen bekämpfen, und zuzugreifen, wenn die Zeit reif ist. China erhält heute schon Zugeständnisse von Russland, die wir in 10 bis 15 Jahren erwartet hätten. Und bald könnte China Dinge verlangen, die Moskau sehr unangenehm und sogar bedrohlich findet. Davon sind wir nicht weit entfernt.

«Peking strebt langfristig die Rückgewinnung von Territorien im fernen Osten Russlands an, die es historisch als Teil Chinas betrachtet.»
Keir Giles

Was könnte das sein?
Peking strebt langfristig die Rückgewinnung von Territorien im fernen Osten Russlands an, die es historisch als Teil Chinas betrachtet. Es ist der gleiche Anspruch, den Moskau auf Gebiete im Osten Europas erhebt. Schon heute setzt China Russland bei der Energie unter Druck, bei Schifffahrtsrouten oder der militärischen Zusammenarbeit. Es erhält Dinge, die es früher etwa aus Angst vor dem Diebstahl von Technologien nicht bekam. China spielt seine Macht aus, und das wird sich beschleunigen, je schwächer Russland wird.

Es gibt Vermutungen, dass Xi Jinping mit dem Kriegsverlauf in der Ukraine nicht zufrieden ist.
Er ist nicht das, was Putin ihm versprochen hat. China hat viele Gründe, unzufrieden zu sein. Das betrifft etwa den nuklearen Unsinn. Es gibt plausible Argumente, dass China die Russen von diesem Gerede abzuhalten versucht. Aber China profitiert eben auch davon, dass sich Russland langfristig selbst zerstört.

Was denken Sie, wie wird sich die Lage in der Ukraine entwickeln? Wird der Krieg noch drei oder vier Jahre dauern?
Alles deutet darauf hin. Die Verbündeten beider Seiten scheinen nicht bereit zu sein, für einen entscheidenden Vorteil zu sorgen. Wir sollten aber eine erneute strategische Überraschung vonseiten der Ukraine nicht ausschliessen. Es ist ein sich wiederholendes Muster in diesem Krieg. Derzeit aber ist Russland zufrieden, weil es sich als Sieger fühlt. Und die Ukraine gewinnt, indem sie überlebt. Deshalb dürfte sich der Krieg ohne strategischen «Schock» hinziehen, mit enormen menschlichen Kosten.

Ausser Donald Trump wäre plötzlich bereit, Putin ernsthaft unter Druck zu setzen, etwa mit dem scharfen Sanktionspaket, das vom US-Senat unterstützt wird.
Und bei dem Trump sehr zuverlässig jeden Versuch gestoppt hat, es voranzubringen. Aber klar, wenn er vom Blitz getroffen wird und seine Meinung über Putin ändert, hätten wir eine vollständig neue Situation.

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Trump empfängt Putin in Alaska
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Trump empfängt Putin in Alaska

Donald Trump bei der Ankunft in Anchorage.

quelle: keystone / julia demaree nikhinson
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186 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sportfan
01.11.2025 10:47registriert April 2020
Interessantes Interview. Nur in einem wesentlichen Punkt irrt er total: Nicht nur Westeuropäische Staaten wie Spanien gehen einen etwas anderen Weg aber ohne gleich die russische Propaganda zu übernehmen Vielmehr kommen oder sind in mittel-osteuropäischen Staaten die Russlandfreunde an der Macht und übernehmen total Russenpropaganda (Ungarn, Slovakei, Tschechien....bald auch Rum, Bul und der Osten von D (AfD).
Ganz schlimm: Nach 40 Jahren Unterdrückung und 30 Jahren Freiheit interwerfen sich diese wieder den Russen....das soll mal jemand verstehen.
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ingmarbergman
01.11.2025 11:12registriert August 2017
Die Trump Regierung will das auch nicht.

Und mache im Umfeld Trump wollen sogar dass Russland gewinnt.
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marcog
01.11.2025 10:05registriert Februar 2016
Ich denke nicht, dass der Krieg noch 3-4 Jahre dauert. Russland ist inzwischen ein Pulverfass mit Hundert brennenden Zündschnüren. Bankenkrise, Nahrungsmittelknappheit, Unabhängigkeitsbewegungen, politische Machtspiele, etc. Die Frage ist nur, welche Zündschnur die Kürzeste ist.
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