DIE ZEIT: Frau McCain, die weltweit als Autorität für Ernährungssicherheit anerkannte IPC-Initiative, von der auch Ihr Welternährungsprogramm Teil ist, hat für Gaza-Stadt eine Hungersnot erklärt. Sie durften kürzlich in den Gazastreifen einreisen. Was haben Sie gesehen?
Cindy McCain: Ich bin erst am Freitag zurückgekehrt, und zuerst muss ich sagen, dass ich nicht in Gaza-Stadt war. Ich bin über den Grenzübergang Kissufim eingereist, weiter ging es nach Deir al-Balah und bis Chan Junis, ausgereist bin ich über Kerem Schalom. Ich konnte mir also vor allem ein Bild von der Konvoi-Route südlich von Gaza-Stadt machen. Und was ich gesehen habe, deckt sich mit der IPC-Einschätzung: Ich habe viele Familien gesehen, die offensichtlich an starker Unterernährung und Hunger leiden.
DIE ZEIT: Israel verweigert weiterhin internationalen Journalisten den freien Zugang zum Gazastreifen. Hatten Sie die Möglichkeit, mit den Menschen vor Ort zu sprechen?
McCain: In Chan Junis konnte ich eine Geburtsklinik besuchen. Die Klinik versorgt Schwangere, stillende Frauen, Babys und sehr kleine Kinder. Ich hatte die Gelegenheit, mit einer Familie zu sprechen, die den ganzen Weg vom Norden des Gazastreifens bis hier geflüchtet war, und sie waren zu elft. Sie hatten alle ihre Habseligkeiten dabei, auch Familienfotos aus besseren Zeiten. Der Unterschied zwischen ihrem damaligen und ihrem heutigen Aussehen ist krass. Es ist schrecklich.
DIE ZEIT: Welche Mengen an Hilfsgüter können Sie aktuell nach Gaza liefern, und wie viel mehr bräuchte es, um den gravierenden Hunger zu verringern?
McCain: Im letzten Monat haben wir 29'000 Tonnen liefern können, das ist mehr, als wir erwartet hatten. Aber angesichts der Lage dort ist das immer noch ein Tropfen auf dem heissen Stein. Aktuell können täglich durchschnittlich 100 Lastwagen des UN-Welternährungsprogramms die Grenze passieren. Wir stellen Familienpakete zusammen. Diese Pakete enthalten ausreichend Lebensmittel, um eine vierköpfige Familie für mehrere Wochen zu versorgen. Für die unterernährten Kinder, etwa in der erwähnten Geburtsklinik, verteilen wir ausserdem hochkalorische Nahrungsmittelpakete.
DIE ZEIT: Was können Sie berichten über die Situation mit der kommerziellen Lebensmittelversorgung? Gibt es Geschäfte oder Märkte, auf denen Waren erhältlich sind?
McCain: Sehr kleine Märkte haben geöffnet, aber die meisten Menschen haben kein Geld, um dort etwas zu kaufen. Deshalb sind sie dringend auf unsere Unterstützung angewiesen, um ihren Bedarf an Lebensmitteln zu decken.
DIE ZEIT: Trotz massiver internationaler Proteste blockierte Israel die Lieferungen humanitärer Hilfe in den Gazastreifen für mehrere Monate. Seit Ende Juli dürfen wieder mehr Hilfen passieren. Wie war Ihr Eindruck: Hat sich die Lage verbessert?
McCain: Es ist zu früh, um das zu sagen. Zumindest hatten wir vor Ort drei gute Gespräche mit der israelischen Seite, konkret mit der für die Koordinierung von Hilfslieferungen zuständige israelische Militärbehörde Cogat, auch mit der israelischen Armee. Und ich konnte mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprechen. Wir konnten auch das Problem der sichereren Verteilung und praktische Wege thematisieren, um unseren Zugang und unsere Lieferketten zu verbessern.
DIE ZEIT: Israel wirft Ihnen vor, dass zu viele der UN-Hilfsgüter in die Hände der Hamas gelangen.
McCain: Ja, aber der Vorwurf ist nicht stichhaltig. Ich bin mir im Klaren, dass es einige ruchlose Leute im Gazastreifen gibt, aber in unserem Fall tun wir unser Bestes und sind gut darin. Wir verfolgen und kontrollieren, wohin die Lebensmittel gehen. Wir haben Listen mit Namen und Informationen, wer wie bedürftig ist.
DIE ZEIT: Aktuell soll die Hamas weiterhin in Gaza-Stadt am stärksten sein, während in Rafah etwa eine von Israel mit Waffen ausgestattete beduinische Miliz die Kontrolle übernommen haben soll. Insgesamt fehlt es an einer unabhängigen Ordnungsmacht in Gaza, die Plünderungen und Diebstahl verhindern könnten. Wie gehen Sie damit um?
McCain: Das ist eine komplizierte Situation. Wir arbeiten direkt mit den örtlichen Gemeindevorstehern und der Zivilgesellschaft zusammen, versuchen über sie, Zugang zu bekommen. Aber als Vereinte Nationen arbeiten wir unter der Prämisse, kein bewaffnetes Personal einzusetzen. Dafür haben wir kein Mandat.
DIE ZEIT: In Zusammenarbeit mit der US-Regierung setzt Israel auf die Verteilzentren der umstrittenen Gaza-Stiftung GHF. Warum können Sie mit der Stiftung bei der Verteilung nicht zusammenarbeiten?
McCain: Die GHF arbeitet mit bewaffnetem Personal, deshalb geht das für uns nicht.
DIE ZEIT: Sie haben ausschliesslich den Süden des Gazastreifens besucht. Es gibt Berichte, dass die Hilfen für den Norden wieder reduziert werden könnten. Ausserdem kündigt Israel wiederholt eine bevorstehende Einnahme von Gaza-Stadt an.
McCain: Ich weiss, dass wir natürlich in höchster Alarmbereitschaft sind, um die Sicherheit unserer Leute zu gewährleisten. Aber für uns ändert das nichts. Wir brauchen Zugänge über alle Grenzübergänge, im Süden wie im Norden. Wir müssen mehr Hilfsgüter schneller an die Menschen verteilen können. Vor allem aber brauchen wir eine Waffenruhe, für die Menschen im Gazastreifen und für die israelischen Geiseln.
DIE ZEIT: Wie unter anderem das Wall Street Journal berichtet, werden aktuell Hunderte von Palästinensern aus dem besetzten Westjordanland in Ägypten als Sicherheitskräfte ausgebildet. Sie sollen als Teil einer bis zu 10'000 Mann starken Truppe eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen herstellen. Haben Sie auf Ihrer Reise Hinweise gesehen, dass die Planung für ein Nachkriegsgaza vorangeht?
McCain: Ich kenne die Beteiligten des Programms, aber Fortschritte mit Blick auf eine Nachkriegsordnung konnte ich vor Ort leider nicht erkennen. Gerade deshalb bleibt es das Wichtigste, dass wir als Welternährungsprogramm schnell und umfassend helfen können. Wir haben die Erfahrung, die es braucht, um in aktiven Kriegsgebieten zu helfen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.