Interview
Gesellschaft & Politik

«Man sieht immer wieder, wie wundersüchtig manche Leute im Esoterik-Bereich sind»

Georg Otto Schmid leitet in Rüti ZH die Evangelische Informationsstelle Relinfo, die sich seit über 50 Jahren mit Kirchen, Sekten und Religionen befasst.
Georg Otto Schmid leitet in Rüti ZH die Evangelische Informationsstelle Relinfo, die sich seit über 50 Jahren mit Kirchen, Sekten und Religionen befasst.bild: zvg
Sonnentempler: Interview mit Sektenexperte

«Man sieht immer wieder, wie wundersüchtig manche Leute im Esoterik-Bereich sind»

30.09.2014, 21:0601.10.2014, 07:38
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Für den Sektenexperten Georg Otto Schmid ist das Sonnentempler-Drama mehr als eine abstruse Episode der Geschichte. Auch heute könne der Weg radikaler Gemeinschaften in die Katastrophe führen. Allerdings hätten Staat und Gesellschaft einige Lehren aus dem Drama gezogen. 

53 verbrannte Leichen in der Westschweiz und in Kanada - für die Öffentlichkeit war das Sonnentempler-Drama im Oktober 1994 ein Schock. 
Georg Otto Schmid:  Es gab ja sogar Experten, die sich vor dem Drama mit den Sonnentemplern befasst hatten und zum Schluss kamen, die Gruppe sei harmlos. Selbst Mitglieder, die nicht zum innersten Zirkel zählten, haben die gefährliche Dynamik der letzten Monate offenbar nicht bemerkt, zum Beispiel der Dirigent Tabachnik. Es war eine von aussen schwer erkennbare Kombination von Faktoren, die zur Katastrophe führten.

Was waren diese Faktoren?
Da war das Urteil wegen illegalen Waffenbesitzes in Kanada. Das fiel zwar mild aus, aber die Sonnentempler wurden bei den Ermittlungen überwacht, das war für den ohnehin paranoiden Di Mambro ein Drama. Dann gab es Aussteiger, die ihr Geld zurück wollten. Finanzprobleme sind etwas vom Gefährlichsten für Gemeinschaften - vor allem wenn der Führer wie Di Mambro in Saus und Braus lebt. Ein weiterer Faktor war die kritische Berichterstattung über eine Sonnentempler-Gruppe auf der karibischen Insel Martinique. All diese Elemente gaben den Sonnentemplern das Gefühl, in einer ihnen feindlich gesinnten Welt zu leben, der man sich entziehen müsse.

Viele Sektenmitglieder waren gebildete Leute. Wie konnten sie auf Di Mambros billige Tricks hereinfallen?
Es ist in der Tat erstaunlich, wie dreist Di Mambro trickste. Aber man sieht immer wieder, wie wundersüchtig manche Leute im Esoterik-Bereich sind. Ihre Sehnsucht nach Wundern ist so gross, dass man ihnen auf billige Art etwas vorspielen kann - und sie nehmen es dankbar entgegen. Der kritische Geist ist völlig weg.

Könnte sich ein solches Drama heute wiederholen?
Es gibt jedenfalls Gemeinschaften, die ähnlich ticken wie die Sonnentempler. Sie erwarten das Heil von einer höheren Welt, ihre Mitglieder halten sich für auserwählt und bereiten sich auf einen Aufstieg vor. Manche dieser Gemeinschaften haben auch das Gefühl, die Welt werde immer schlechter. Dazu kommt eine extreme Führer-Zentriertheit. Diverse Gemeinschaften haben all diese Merkmale und werden den Weg der Sonnentempler trotzdem nicht gehen - jedenfalls nicht, solange sie nicht wie diese in eine Krise geraten.

Gibt es überhaupt noch Sonnentempler?
Nein, nach unseren Erkenntnissen nicht.

Aber andere radikale esoterische Gruppierungen?
SCHMID:
Das schon, ja. Allerdings hat die Tendenz, sich einer Gemeinschaft anzuschliessen, allgemein abgenommen. Heute ist man eher in kleinen Grüppchen zusammen. Die Chance, dass eine neugegründete Gruppe im Bereich der Esoterik noch auf über 400 Mitglieder kommt, ist nicht mehr sehr gross.

Warum? 
Die Menschen stehen den Institutionen kritischer gegenüber, nicht nur den Kirchen, auch anderen Gemeinschaften. Dann sind sie seit dem Sonnentempler-Drama wachsamer gegenüber Sekten und sektenähnlichen Gebilden. Ausserdem macht das Internet heute eine Vernetzung möglich. In den 1990er-Jahren musste ich mich einer Gemeinschaft anschliessen, um mich mit Gleichgesinnten austauschen zu können, heute kann ich jeden Tag in irgendwelchen Foren herumhängen, ohne Verpflichtungen einzugehen.

Immerhin kam es in den letzten Jahren nicht mehr vor, dass Dutzende Glaubensverwandte gleichzeitig starben. 
Die heutigen Dramen sind eher Einzelschicksale. 2013 zum Beispiel haben sich in der Schweiz mindestens zwei Menschen das Leben genommen, nachdem der von den Lichtarbeitern angekündigte Übergang in die fünfte Dimension am 21. Dezember 2012 ausblieb.

Hat die Gesellschaft etwas gelernt aus dem Sonnentempler-Drama?
Auf jeden Fall. Die staatlichen Stellen sind vorsichtiger geworden im Umgang mit radikalen Gemeinschaften. Diesen muss man zwar Grenzen setzen, aber man darf sie nicht zu sehr in die Enge treiben. Lehnt man zum Beispiel ein Baugesuch ab, muss man auch Zeit investieren, den Entscheid den Leuten ausführlich zu erklären. Die Gesellschaft ihrerseits weiss, dass Gruppen, die wie spirituelle Spinner wirken, nicht immer harmlos sind. Man muss radikale Gemeinschaften grundsätzlich ernst nehmen. Und auch wir Experten haben Lehren gezogen. Wir stellen Gemeinschaften nicht leichthin einen Persilschein aus. (sda)

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