Helga ist Nutte. Helga ist bewusst, dass «Nutte» ein abfälliges Wort ist. Dennoch will Helga unbedingt, dass ich sie als «Nutte» bezeichne. Einfach, weil sie das ist und weil sie das freiwillig gewählt hat und weil sie das Wort total okay findet. Prostituierte, das tönt für sie nach Beamte.
Helga ist seit über 30 Jahren Nutte. Wie sie da reingekommen ist, erzählt sie nie. Helga lebt viel mehr im Hier und Jetzt. Und hier und jetzt ist sie mal wieder zu Gast in der Bar, in der ich manchmal hinter dem Tresen aushelfe. So wie heute.
Es ist nicht viel los.
Helga steht also da am Tresen. Sie trägt, wie immer, viel Ausschnitt, sehr enge Jeans und die Lippen sind rot geschminkt – und verschmiert. Ihre schwarz gefärbten Locken hängen in ihr Gesicht. Helga hat vieles erlebt. Schaut man ihr ins Gesicht, kann man's erkennen.
Helga, so kann man sagen, gehört zu den guten Seelen im Milieu. Selber bezeichnet sie sich als «Nutten-Mutter». Für junge Kolleginnen hat sie immer Tipps auf Lager, sie hilft bei Behördengängen oder Problemen in Beziehungen.
Helga selber ist in keiner Beziehung. Offiziell, weil sie alle Männer liebt. Inoffiziell glaubt sie einfach nicht mehr an die Liebe. Das stört Helga aber nicht. Sie ist sich sicher, dass ihr Leben als Alleinstehende mit vielen Männern und Stammkunden sehr viel aufregender und spannender ist als das Leben anderer Frauen in ihrem Alter.
Helga und ich kennen uns schon lange. Sie kehrt immer wieder bei uns ein. Und wenn Helga da ist, dann ist's immer lustig.
Im Gegensatz zu sonst immer, ist der Laden für einmal nicht voll. Ist ja auch unter der Woche. Ich bin alleine und Helga ist mein einziger Gast. Ich hol ihr einen Barhocker und setze mich dazu.
«Na, mein Kind, was macht die Liebe?»
«Sie nervt», sage ich.
«Liebe nervt meistens. Ausser sie ist ganz frisch. Nach ein paar Monaten aber, Schätzchen, da wird's immer mühsam.»
Ich erzähle ihr von Suff-SMS-Sandro und mir. Und von Suff-SMS-Sandro und Schontall.
«Lass ihn gehen, lass los. Und ich verspreche dir, der kommt wieder. Ob das dann eine gute Sache wird oder nicht, das wirst du dann schon sehen.»
Darauf ein Shötli.
Wie denn die Männer sind, die zu ihr kommen, will ich wissen. Obwohl, eigentlich weiss man es ja. Ganz Junge, Familienväter, CEOs, Liierte, Verheiratete, alte Kerle, einsame Wölfe. Alles. Richtig?
«Sehr richtig», sagt Helga. Oft seien ihre Kunden überdurchschnittlich attraktiv. «Da frage ich mich, warum sie für Sex mit einer so alten Schachtel wie mir zahlen.»
Hat sie es rausgefunden?
Die Kinks, die Fetische. Die meisten Männer haben Vorlieben, die sie daheim nicht ausleben können. Da ist ein engagierter Familienvater, der jeden Donnerstagmittag kommt, um sich einen runterzuholen, während er an Stöckelschuhen leckt. Die muss Helga nicht mal tragen. Sie muss sie ihm einfach vor den Mund halten.
Oder der Klassiker: Der CEO, der einmal im Monat dominiert werden will. «Gummiball und Kerzenwachs inklusive», sagt Helga und lacht. Besagter CEO, ein knallharter Typ in der Wirtschaft. Bei ihr im Kämmerli ein sehr unsicherer Mensch. «Der hat mir noch nie in die Augen geschaut.»
Was macht Helga nicht, will ich wissen. «Buben, die zum 18. Geburtstag entjungfert werden wollen, schicke ich sanft wieder weg.» Nix für ungut, aber die wollen wirklich Sex mit einer Frau, die ihr Grosi sein könnte. «Absolut, die wollen einfach nur mal endlich f***en.»
Kommen Paare, die auf Cuckold stehen oder sich einen Dreier wünschen? «Die kann ich in all den Jahren an einer Hand abzählen», sagt Helga. Von all denen sind dann die Männer aber garantiert wieder gekommen. Heimlich. Ohne Anhang.
Das ist vielleicht Helgas Krux mit der Liebe. Helga sagt nämlich, dass absolut jeder Mann ohne mit der Wimper zu zucken fremdgehen kann. Die Frage, sagt Helga, ist bloss, wann er die Hemmschwelle zum ersten Betrug überschreitet. Ist die aber mal überwunden, ist's passiert.
Ich weiss nicht, ob das so stimmt.
Helga lacht nur.
Wir lassen es stehen.
Hat sie sich denn nie verliebt? «Doch, natürlich. Auch schon in Freier.» Selbst wenn es auf Gegenseitigkeit beruhte, hat Helga nichts gesagt oder gemacht. «Wie soll ich eine Beziehung mit Vertrauen aufbauen mit einem Mann, von dem ich weiss, dass er Sex mit Nutten hat?»
Heimlich nämlich, das gibt Helga nach dem dritten Drink zu, träumt sie schon auch immer noch von der einen grossen Lovestory. Von Monogamie. Einem Haus auf dem Land. Ferien in Sizilien. Vielleicht ein Hund, eine Katze. Und eine grosse Familie.
Ob ihr die Frauen leid tun, mit deren Männern sie Sex hat? «Kein bisschen, wahrscheinlich bin ich für die Frauen eine Entlastung. Bei mir leben die Männer aus, was sie von ihren Partnerinnen nicht bekommen. Den schönen, nahen Sex aber, den leben sie daheim aus und das ist gut so.»
Es ist schon nach 3 Uhr. Ich muss den Laden langsam schliessen. Helga gönnt sich noch eine Gute-Nacht-Zigarette. Bevor sie geht, fragt sie, ob sie mir einen Tipp geben darf.
Logisch darf sie. Nein, sie soll.
«Zieh mal anständige Schuhe an. Ich weiss nicht, warum Frauen heute alle in Turnschuhen rumrennen. Wir sind doch hier nicht auf dem Sportplatz. Ausserdem Kindchen, willst du hoch hinaus, brauchst du eine gute Haltung. Die kriegst du, wenn du Stögis anziehst. Dann klappt's vielleicht auch mit diesem ... wie hiess er schon wieder … der, der dir besoffen Nachrichten schickt?»
Ich lache.
«Und hör auf, dein Dekolleté mit so hässlichen T-Shirt-Gelump zu verdecken. Du hast Möpse. Inszenier sie.»
Hach, i love Helga. Und dass sie kein Verständnis für mein Salt-N-Pepa-Shirt hat, verzeihe ich ihr mit 10 Handküssen.
Adieu,
Ganz im Gegensatz zu absolut jeder Frau.
-.-
Ach, Openair-Sehnsucht