Nicht jede hat so viel Glück wie Victoria mit ihrem David. Doch als David Beckham vor einem Vierteljahrhundert sein Spice Girl kennenlernte, war sie bereits ein Weltstar, Teil eines Phänomens, das in den Stadien Abertausende live begeisterte. Genauso wie David mit seinem Club Manchester United. Die Sängerin und der Fussballer trafen sich als Gleichberechtigte. Er war nicht einfach in den Shop für Lebend-Dekor-Artikel gegangen. Und kein Mensch kam auf die Idee, sie als «Spielerfrau» zu verspotten.
Nicht jede hat so viel Pech wie Kasia Lenhardt mit dem ehemaligen Bayern-München-Star Jérôme Boateng. Aber wie ein Team des deutschen Recherchezentrums Correctiv gemeinsam mit der «Süddeutschen Zeitung» nun herausgefunden hat, ist ihr Fall strukturell bezeichnend für die Fussballerszene.
Correctiv ist eine in Essen ansässige spendenfinanzierte NGO, die gemeinsam mit grossen deutschen Medien aufwendige und langfristige Recherchen betreibt und dafür schon jeden deutschen Medienpreis inklusive mehrerer Grimme-Awards gewonnen hat.
Im Falle von «Draussen Held, drinnen Gewalt. Das Schweigen der Spielerfrauen» geht es um neun Partnerinnen deutscher Profifussballer, die physische und psychische Gewalt erfahren haben und mundtot gemacht wurden. Die tragischste unter ihnen ist Kasia Lenhardt, die am 9. Februar 2021 tot in ihrer Berliner Wohnung gefunden wird.
15 Tage vor ihrem Tod zwingt Boateng sie, eine Verschwiegenheitsvereinbarung zu unterschreiben. Dabei soll er Gewalt anwenden. Kasias Mutter findet ihre Tochter danach mit einem zerrissenen Ohrläppchen und blauen Flecken. Letztere hatte sie in den 15 Monaten ihrer Beziehung mit Boateng schon oft.
In dem Vertrag, der Correctiv vorliegt, steht, dass Kasia Lenhardt sich verpflichtet, über alles, was sie privat oder beruflich von Boateng weiss, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Bild- und Tonaufnahmen, Nachrichten, E-Mails, schriftliche Dokumente, jede Art von Datei soll sie auf seinen Wunsch löschen oder vernichten und ihm dies bestätigen. Sollte sie etwas an Dritte weitergeben oder -erzählen, muss sie bezahlen.
Kasia Lenhardt selbst erhält dafür im Gegenzug nichts. Kein Geld, keine Verpflichtung seinerseits. Was bleibt, ist die reine Einschüchterung. Denn eigentlich sind diese Vereinbarungen oder Non Disclosure Agreements (NDA) juristisch alles andere als wasserdicht, Kasia könnte ihre vor Gericht anfechten, doch der Druck tut seine Wirkung. Und Boatengs Verhalten.
Kaum meint sich Kasia nämlich zum Schweigen verpflichtet, gibt er der «Bild» ein abscheuliches Interview, in dem er sie als Alkoholikerin und Erpresserin verunglimpft, die seine Karriere zerstören wolle: «Kasia sagte, sie würde dies tun, indem sie mich beschuldigt, sie geschlagen zu haben. Sie wusste genau, dass die Mutter meiner Kinder mich der gleichen Sache beschuldigt und wir deswegen ein Gerichtsverfahren haben.»
Das Interview und die damit einhergehende Schmutzkampagne gegen Kasia Lenhardt erscheinen am 2. Februar noch unter dem «Bild»-Chefredakteur Julian Reichelt. Ab März 2021 häufen sich die Vorwürfe gegen Reichelt, im Oktober berichtet die «New York Times», dass er mehrfach mit ihm untergebenen jungen Frauen Affären gehabt und sich ihr Stillschweigen erkauft habe. Reichelts Nachfolger sagt, dass das Interview mit Boateng heute nicht mehr gedruckt würde, inzwischen ist es von der «Bild»-Seite gelöscht worden.
Doch im Februar 2021 entlädt sich in den Kommentarspalten und in den sozialen Medien ein derartiger Hass auf Kasia Lenhardt, dass sie sich das Leben nimmt. Innerhalb weniger Tage wird ihre ganze Existenz in aller Öffentlichkeit seziert. Sie ist Hexe und Hure und die Frau, die zu allem den Mund halten muss.
Kasia war Model, 25 Jahre alt und alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes. Er ist 2015 zur Welt gekommen, im selben Jahr wie Boatengs Sohn Jermar, dessen Mutter noch immer unbekannt ist und ganz offenbar Stillschweigen bewahrt.
Boatengs Ex-Freundin und Mutter seiner Zwillingstöchter, Sherin Senler, weiss auch nichts Positiveres über den Fussballer zu berichten. Schläge und Bisse seien an der Tagesordnung gewesen, 2021 wird er wegen körperlicher Gewalt zu einer Zahlung von 1,8 Millionen Euro an Senler verurteilt. 2018 hatte sie zudem zur Anzeige gebracht, eine Wanze in ihrem Schlafzimmer gefunden zu haben – sie suchte danach, nachdem Boateng behauptet hatte, sie im Bett mit einem anderen Mann zu belauschen. In ihrer elfjährigen On-off-Beziehung, die 2019 endete, hat er sie andauernd betrogen.
Andere Frauen, die unter Pseudonymen auftreten, berichten davon, geschlagen, eingesperrt, überwacht, gehackt, bedroht worden zu sein. Die Bezahlung von Unterhalt für gemeinsame Kinder wurde von der Unterschrift unter dem NDA abhängig gemacht. Frei erfundene Geschichten über die Frauen wurden gezielt den Medien gefüttert, um von etwaigen Fehltritten der Männer abzulenken.
Denn dass die Vorbilder für Millionen unter allen Umständen ein sauberes Image bewahren mussten, war spätestens seit Juni 2012 klar. Da kanzelte Joachim Löw an einer Pressekonferenz Boateng dafür ab, dass er in der Nacht vor dem Abflug der Nationalmannschaft an die EM Gina-Lisa Lohfink auf sein Hotel bestellt hatte. «Dass mir das nicht gefallen hat, was am Wochenende da war, ist ja wohl selbstverständlich», sagte Löw.
Oft wurde versucht, Drogen bei den Frauen zu platzieren. Oft wurden privateste Bilder, Mails und Nachrichten zufälligerweise in eine grössere Öffentlichkeit gespült. Im Fall von Kasia Lenhardt wurden diese zufälligerweise auf dem Instagram-Kanal der Boateng-Ex Rebecca Silvera publiziert. Im Juli 2022 haben sich Boateng und Silvera verlobt, seither ist von dieser Beziehung nichts mehr zu sehen, hören oder lesen.
Es ging um Vertuschung, Zermürbung und Gaslighting – die Frauen (und oft auch die Kinder) sollten beginnen, an ihre eigene Schuld zu glauben. Anwälte, Richter, Boulevard-Medien, der Sportsender DSF, Clubs, Verbände und Therapeuten scheinen dabei gerne einträchtig zusammengearbeitet zu haben. Das ist die grosse strukturelle Perfidie. Schliesslich handelt es sich bei den Fussballern um Cashcows und Prominente im ganz grossen Stil. Die Frauen sind bloss Beiwerk.
Ein Mensch ist viel wert, der andere nichts. Ziel ist die absolute Kontrolle dessen, der als Idol gehandelt und behandelt wird, über eine seiner vielen Trophäen. Mit Liebe hat das nichts zu tun. Die Frauen gehen vergessen. Eine von ihnen, berichtet Correctiv, lebt jetzt in Amerika mit ihren Kindern verarmt in einem Trailerpark, wenigstens ist sie dort für ihren Ex nicht mehr erreichbar.
Die Männer unterschreiben weitere Verträge. Die nächste Verschwiegenheitsvereinbarung, den nächsten Transfervertrag. Und beim nächsten wichtigen Tor haben sich die Schatten ihrer Vergehen verflüchtigt.
PS: Gleich zwei Parteien stehen dieser Tage vor Gericht: Jérôme Boateng hat Berufung gegen die Zahlung der 1,8 Millionen Euro an Senler eingelegt. Und Kasia Lenhardts Familie kämpft weiter um die Persönlichkeitsrechte ihrer toten Tochter. Boateng würde in seinem Berufungsprozess wegen Körperverletzung verurteilt.