Ich verbrachte Heiligabend im Gym und es war besser als erwartet
Es fühlt sich fast ein bisschen verboten an. Der dicke Mantel schützt dürftig vor der giftigen Bise, die an diesem Abend durchs Quartier fegt und mich durch die Schicht plastikfasriger Sportkleidung schlottern lässt. Aber ich lasse mich nicht beirren.
Es ist 18 Uhr an Heiligabend, und den verbringe ich dieses Jahr statt unter dem Weihnachtsbaum im Gym.
Warm-up
Auf dem Laufband treffe ich die ersten beiden Mitglieder meiner temporären Weihnachtsfamilie. Ein Pärchen – eines der Sorte, die sich irgendwie äusserlich ein bisschen ähnelt – besetzt die beiden Laufbänder in der Mitte. Das sind die einzigen beiden Plätze mit freiem Blick auf die Lichterketten am Einkaufscenter gegenüber.
Sie bewegen die Arme energisch zum schnellen Gehtempo (6,4 km/h), das von der Anzeige blinkt. Sie lächeln milde in Richtung der Weihnachtsbeleuchtung, die jetzt, wo Weihnachten da ist, ein bisschen verloren in der Bise hin und her schaukelt. Ob sie so zufrieden dreinschauen, weil sie heute das für sie perfekte Weihnachtsprogramm durchziehen, einander ein Fitness-Abo geschenkt haben oder Weihnachten eh nicht feiern, weiss ich nicht.
Ich wünsche Tante Anna und Onkel Bruno, wie ich die beiden für mich getauft habe, still ein frohes Fest und dass sie ihr Schrittziel nächstes Jahr stets erreichen mögen. Dann schnappe ich mir mein Handtuch und steige die Treppe hinab in den Freihantelbereich.
Hip Thrusts
In dem Bereich des 24-h-Gyms, der über fast so viele Spiegelwände wie Hanteln verfügt, herrscht eine fast andächtige Stille. Dort, wo normalerweise gestählte Typen mit schmerzverzerrten Gesichtern ihre Hanteln stemmen, hab ich heute Abend viel Platz.
Mit miserabler Rundrücken-Haltung hieve ich eine Dumbbell aus der Hantelhalterung, für die meine Oberkörperstärke nicht ausreicht, und schleife sie zur Bank. Heute habe ich so viel Platz, dass ich mich tatsächlich im Spiegel sehen und bisschen auf meine Form achten kann. Bis zum dritten und letzten Set krieg ich's hin, kein Hohlkreuz zu machen und die Übung sauber zu absolvieren. Das werte ich als kleines Weihnachtsgeschenk, from me to me. Ho ho ho!
Pause
Motiviert von meiner feierlich guten Form bei den Hip Thrusts sollen heute auch die Split Squats mal kniefreundlich ausfallen. Ich lasse mir mehr Zeit als üblich, um die Übung aufzusetzen, und treffe dabei im Spiegel den Blick eines der Typen mit Oberarmen wie eine Marmorstatue.
Gabriel sollst du heute heissen, mein Pseudo-Weihnachts-Cousin.
Gedankenverloren starrt er in den Spiegel, scheint durch sein eigenes Spiegelbild hindurchzuschauen. Ob er wohl hier ist, weil er sich die Kalorien der Weihnachtsvöllerei versagt, oder auch er niemanden zum Feiern hat heute Abend, weiss ich nicht.
Ich wünsche ihm – still für mich, ich will ihn schliesslich nicht aus der Konzentration reissen, die er für das nächste perfekt ausgeführte Set Seitenheben brauchen wird –, dass sein liebstes Proteinpulver nicht plötzlich aus dem Sortiment genommen wird und dass er nicht immer so streng mit sich ist.
Split Squats
Back to Business. Die wohl meistgehasste Übung unter Gym-Gehern schenke ich heute meinen vier Buchstaben. Konzentriert zittere ich vor mich hin und muss feststellen, dass die letzte Rep auch im fast leeren Gym und trotz der Geburtstags-Vibes des Gründers der Religion, in die ich hineingeboren wurde, eher höllisch als himmlisch ist.
Immerhin bezeugen weniger Augenpaare als sonst, wie ich scheinbar verlernt habe, wie man einen Fuss vor den anderen setzt, als ich aus dem Freihantelbereich stolpere (ausser Gabriel, aber das ist okay, wir sind ja Familie).
Seated Leg Curl
Okay, vielleicht liegt doch ein kleines bisschen Magie in der – heute merkwürdig frischen – Gym-Luft. Neuer PR an der Beinbeuger-Maschine. Halleluja!
Hip Abductor
Mit noch immer weichen Beinen schwebe ich engelsgleich die Treppe hoch. Dort steht das letzte Gerät der heutigen Routine. Natürlich ist es frei und sogar der Pin wurde rausgezogen, sodass ich nicht neidisch auf die Person sein muss, die vor mir am Gerät war und gut dreimal mehr Gewicht als ich mit ihren Abduktoren zu bewegen vermag.
Neben mir (an der Adduktoren-Maschine) macht sich ein älterer Herr zu schaffen. Anders als viele hat er die Angewohnheit, die Geräte vor und nach der Bedienung gründlich zu desinfizieren. Als er da mit dem durchfeuchteten Haushaltspapier an den Maschinengriffen rumwischt, mache ich mir mehr Gedanken als bei Cousin Gabriel und Powercouple Anna und Bruno (sie haben noch nicht aufgegeben und machen weiter Schritt um Schritt auf die windige Weihnachtsbeleuchtung zu, ehe das Laufband unter ihnen ihren Fortschritt gleich wieder zunichte macht).
Ich hoffe, dass der ältere Herr, der seine Übungen stets etwas zaghaft ausführt, heute nirgends lieber sein möchte als hier im Gym. Ein bisschen glaube ich mir das sogar, denn ich habe Opa Paul, wie ich ihn spontan taufe, hier schon oft gesehen.
Ausbrennen
Nach meinem letzten Set ist die Maschine neben mir bereits leer, Opa Paul ist in die Umkleide verschwunden. Aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich ihm nicht laut schöne Weihnachten gewünscht. Wir sind ein schweigsames Trüppchen, meine Gym-Familie und ich, uns genügt die Gegenwart der anderen und ein leichtes Kopfnicken, wenn sich die Blicke kreuzen.
Zum Schluss absolviere ich noch ein Paar Glute Bridges zum Ausbrennen. Kurz hatte ich mir überlegt, sie ausfallen zu lassen, sie mir zu schenken – aber heute ist ja Heiligabend, und das ist eine ernste Sache!
Zurück zuhause gibt's Resten von gestern und eine kalte Schoggi mit fünf Löffel Schoggipulver (kein Proteinpulver, ich schwöre). Ich trinke eines der Spezialbiere, das mir mein Mitbewohner zu Weihnachten geschenkt hat, und schreibe meiner besten Freundin: «Bin tatsächlich zufrieden mit meinem Weihnachten.» Sie schickt mir vier Herzen zurück.
