Wie ist es, mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Leistungssport zu betreiben? Wie fühlt es sich an, wenn man dies ohne therapeutische Behandlung tut? Und welchen Unterschied macht Ritalin? WM-Teilnehmerin Catia Gubelmann hat auf all diese Fragen Antworten. Die Geschichte dieser bewundernswerten jungen Frau ist eindrücklich. Ihr Weg in der Vergangenheit beschwerlich und leidvoll.
ADHS kommt unter Sportlerinnen und Sportlern überdurchschnittlich häufig vor. Für kein anderes Medikament müssen die Antidoping-Behörden so viele Ausnahmebewilligungen erteilen wie für Ritalin. Doch nur die wenigsten betroffenen Athletinnen und Athleten trauen sich, öffentlich über ihre «Störung» zu reden.
Die 22-jährige Leichtathletin Catia Gubelmann tut es mit Überzeugung und der Hoffnung, andere dadurch zu ermutigen und einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen zu erreichen. «ADHS ist nichts, wofür man sich schämen muss», sagt die Zürcherin.
Die Studentin in Betriebsökonomie und Sportmanagement sitzt in einem belebten Café, vor ihr eine grosse Tasse Tee. Eine Frage reicht und es sprudelt aus ihr heraus. Sie habe einen Zwillingsbruder, der aber ein ganz anderer Typ sei. Während er als Kind ruhig und passiv war, sei sie sehr aktiv gewesen. Da aber die Noten in der Primarschule gut waren und das Verhalten nie negativ auffiel, wird ihr aussergewöhnlicher Aktivitätsdrang nicht als lästig empfunden. In der Gruppe ist Catia das Leittier, das gerne die Kontrolle hat.
Doch bereits im Kindesalter entwickelt das aufgeweckte, aber sehr emotionale Mädchen Strategien für gewisse Defizite. «Ich konnte zum Beispiel relativ lange nicht lesen. Deshalb hörte ich mir die Geschichten als Hörbücher an, lernte den Text auswendig und trug ihn dann beim Leseunterricht in der Schule vor. Das ging gut, bis ich einmal vergass, die Seiten umzublättern.»
Sie selbst habe schnell gemerkt, «dass ich komplett anders bin als Gleichaltrige», sagt die Tochter von Sportpsychologe Hanspeter Gubelmann. Grösse Konflikte sind dann als Teenager zuerst zuhause ausgebrochen. Die enorme Energie der jugendlichen Catia muss raus. Man erklärt sich das Verhalten und ihre ausgesprochene Impulsivität in ihrem familiären Umfeld mit der Pubertät.
Catia Gubelmann bleibt auch während ihrer Gymi-Zeit ohne ADHS-Diagnose. Sie sagt rückblickend: «Dass ich die Matura-Prüfungen im Gymi mit diesen Noten schaffte, ist eine wahre Meisterleistung.» Doch in ihr drin brodelt es wie in einem Vulkan. «Den Alltag zu bewältigen, setzte mich unter riesigen Stress und kostete mich so viel Energie.»
Sie fühlte sich unter enormem Leistungsdruck, hatte das Gefühl, sie passe nicht in das System, in welchem sie sich bewegt. «Ich habe in dieser Zeit extrem gelitten», sagt Catia Gubelmann. Angstzustände, depressive Phasen, Probleme mit dem Essverhalten bis hin zum Burnout – die junge Frau bekommt die ganze Ladung mit auf ihren Weg.
Zwar perfektioniert sie dank ihrer Intelligenz und ihrem Ehrgeiz die Strategien, um die Folgen des ADHS in der Bewältigung der Ausbildung zu minimieren, aber der Preis ist ein emotionaler Dauerzustand, den sie niemandem wünscht. «Ich habe alles investiert und kam mir trotzdem strohdumm vor. Mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl gingen in dieser Zeit komplett flöten.»
Drei Monate vor der Matur dann der absolute Tiefpunkt, auf eine Art aber auch ein Befreiungsschlag: Catia Gubelmann hat bereits zuvor die Schule immer öfter geschwänzt, weil sie in diesem Setting nicht imstande ist, lernen zu können. Es folgt ein totaler körperlicher und mentaler Zusammenbruch.
Geholfen hat ihr damals ihr Leichtathletik-Trainer Manuel Evangelista als wichtigste Vertrauensperson in diesem Thema. «Er äusserte als Erster den Verdacht, dass ich ADHS haben könnte.» Evangelista ermutigt Catia an deren Tiefpunkt zu einer Behandlung, vermittelt ihr eine Therapeutin und organisiert auch die Termine für sie, weil es ihr selbst in dieser Situation zu schwerfällt. Trotz persönlicher Krise bewältigt sie die Matur nur drei Monate nach ihrem Zusammenbruch mit der Note 5.
Für Catia ist die ärztliche Diagnose eine Erleichterung. Sie ersetzt Chaos, Ungewissheit, Frustration. Endlich hat die so lernbegierige junge Frau eine konkrete Vorstellung, kann sich intensiv mit der Erkrankung auseinandersetzen und sich im wahrsten Sinne darüber schlau machen. «Es war für mich ein Aha-Moment ohne Ende. Auf einen Schlag hatte ich die Antwort in vier Buchstaben für mein Leiden.»
Das ADHS hatte sich zuvor auch im Leichtathletik-Training ausgewirkt. Catias Impulsivität und die eingeschränkte Emotionsregulation stehen ihr auch dort im Weg. Sie stehen – zusammen mit ihrer durch ADHS gesteigerten Risikobereitschaft – auch am Anfang von mehreren Verletzungen.
Zudem trainiert sie praktisch immer in einer Gruppe. «Das allein löste bereits extremen Stress aus. Es war für mich eine Reizüberflutung und da war auch diese latente Angst, ich könnte versagen. Dazu kam das permanente Gefühl, anders zu sein und nicht dazuzugehören.»
Wenn ihr Trainer eine neue Übung erklärt, glaubt sie aufgrund des schwachen Selbstvertrauens, diese nicht umsetzen zu können – «auch, weil gleichzeitig hundert Gedanken in meinem Kopf herumschwirren.» Gelingt etwas nicht, dann knallt sie aus Frust schon mal eine Hürde um. Es bleibt die Rolle der Aussenseiterin.
Doch ihr Trainer zeigt Verständnis und enorme Geduld, glaubt stets an ihr immenses Potenzial und an sie als Mensch. Deshalb und weil bei ihr im Sport im Gegensatz zur Schule stets der Gedanke vorhanden ist «ich kann das und ich mache es gerne», fühlt sie sich dort wohl.
Seit nunmehr gut zwei Jahren nimmt Catia Gubelmann aus eigenem Antrieb das Medikament Ritalin. Was hat sich dadurch geändert? Die Leichtathletin macht einen bildlichen Vergleich: «Ohne Ritalin: Ich stehe zur Rush-Hour in der grossen Halle des Zürcher Hauptbahnhofs. Kreuz und quer suchen sich die Leute ihren Weg und ich muss mich mittendrin auf den dritten Versuch im Hochsprung über 1,60 m vorbereiten. Mit Ritalin: Die gleiche Szene, aber ich stehe mutterseelenallein im HB und bereite mich auf diesen Sprung vor.»
Die pausenlose Reizüberflutung hat sich durch den Einsatz von Ritalin ebenso stark verbessert wie ihre Energiereserven, weil ihre Fokussierung nun viel zielgerichteter ist. Erst seit der Diagnose hat Catia Gubelmann das Gefühl, auch im Sport ihr ganzes Potenzial ausschöpfen zu können.
Im ersten Jahr mit Ritalin steigert sie ihre Bestmarke im Siebenkampf um beinahe 1000 Punkte. Verletzungsbedingt sattelt sie im vergangenen Jahr auf die 400 m um, feiert an der U23-EM Silber mit der Staffel und schafft es im ersten Jahr mit der neuen Disziplin bereits an die WM.
An diesen Titelkämpfen in Budapest, wo Catia Gubelmann Teil der Schweizer Staffel über 4x400 m ist, benötigt sie erstmals an einem Wettkampf eine im Voraus gültige Ausnahmebewilligung zur Startberechtigung. Diese trifft erst Stunden vor ihrer Abreise ein, denn die medizinischen Abklärungen, ob eine Ritalin-Einnahme nicht zur Leistungssteigerung missbraucht wird, sind aufwändig und streng.
Obwohl ihr Weg steinig und oft schmerzvoll war, hat sie durch ihre ADHS-Störung auch Eigenschaften entwickelt, die sie heute stärker machen. Catia Gubelmann musste sich selten zum Trainieren zwingen und sie hat sich beim Erreichen ihrer Ziele einen enormen Willen angeeignet. «Ich weiss, dass mein Leidensdruck enorm ist». Und sie kann nun von ihrem Hyperfokus Gebrauch machen, wenn es zählt.
Nicht vermissen wird die 22-Jährige dieses jahrelange Gefühl der Hilflosigkeit, nicht zu wissen, was genau mit ihr los ist. «Ich kann mit Dingen, die ich nicht weiss, sehr schlecht umgehen», sagt sie. Auch spürt sie eine gewisse Wut, wieso das ADHS nicht früher diagnostiziert wurde. In diesem Punkt treffen ihre Vorwürfe auch die Eltern.
Auch der Einsatz von Ritalin bleibt nicht ohne Nebenwirkungen. Den Einschlafproblemen wirkt Catia entgegen, indem sie die Einnahme des Medikaments zeitlich steuert. Und der Umgang mit Essen bleibt durch eine Appetitlosigkeit einerseits und dem Wissen über die Relevanz des Energiehaushaltes andererseits eine ständige Herausforderung.
Nun, wo Catia Gubelmann ihre Antwort gefunden hat, bleibt ADHS für sie ein zentrales Thema, bei dem ihr Wissbegehren auf Nahrung trifft. Sie liest Bücher zum Thema und eine erste wissenschaftliche Arbeit in ihrem Fernstudium galt der Frage, wie sich ADHS im Leistungssport auswirkt. Ihre eigene Geschichte macht das Fazit, dass es einen enormen Einfluss hat, umso glaubwürdiger. (aargauerzeitung.ch)
Das hat vermutlich damit zu tun, dass sie als Kinder zum Sport finden um ihre Energie loszuwerden.
Einzelsportarten „funktionieren“ meist besser als Teamsportarten. Ich weiss das aus eigener Erfahrung.