Sie hat die letzten acht Jahre auf dem Dorf verbracht. Als Mitbewohnerin einer ehemaligen Richterin. Davor war sie drei Jahre lang im Kloster. Die Nonnen des Klarissenklosters von Malonne bei Naumur hatten sich bereit erklärt, Michelle Martin zu resozialisieren. Auch wenn sie dafür in Kauf nehmen mussten, dass ihr Kloster unter ständiger Polizeiaufsicht stand. Michelle Martin war 2012 nämlich nach 16 Jahren Haft vorzeitig auf Bewährung freigelassen worden. Und weil sie im Gefängnis zu Gott gefunden hatte, boten ihr die barmherzigen Schwestern eine Zuflucht an. 2015 wurde das Kloster geschlossen, da zog sie zu der pensionierten Richterin.
Seit wenigen Tagen ist die Bewährung samt allen Auflagen aufgehoben. Michelle Martin ist wieder eine freie Frau. Und Belgien erlebt eine neue Phase des Dutroux-Traumas. Denn Michelle Martin war Gattin und Komplizin des mehrfachen Mörders Marc Dutroux. Er das «Monster». Sie die «Hexe». Von Belgien.
1981 begegnen sich die beiden beim Schlittschuhfahren. Sie ist 21, eine schüchterne, frisch diplomierte Lehrerin, er 25, verheiratet, Vater von zwei Kindern, die er bereits in ein Heim abgeschoben hat, von Beruf Ex-Stricher und Kleinkrimineller. Michelle ist ihm sofort verfallen. Und sie wird Teil der dunkelsten Seite seiner Geschäfte: Sie hilft ihm, junge Frauen zu entführen, die er vor laufender Kamera missbraucht und die Aufnahmen davon verkauft.
1986 werden Marc und Michelle verhaftet, 1989 verurteilt, er zu 13, sie zu 5 Jahren, ihnen kann die Entführung und der Missbrauch von fünf jungen Frauen zwischen 16 und 19 Jahren nachgewiesen werden. Im Zuchthaus heiraten sie, bereits nach drei Jahren werden sie begnadigt, obwohl Dutroux' Mutter die Behörden vor ihrem Sohn warnt. Und die beiden machen einfach weiter.
Dutroux' Psychiater bescheinigt seinem Klienten eine schwere seelische Schädigung durch die Haft, er ist ab sofort arbeitsunfähig, erhält eine Rente und jede Menge Psychopharmaka und Beruhigungsmittel – mit denen er seine neuen Opfer betäubt. Dreimal werden er und Michelle Martin Eltern. Einmal von einem Mädchen. Es ist das Resultat eines Experiments. Dutroux ist überzeugt, dass Mädchen aus besonders überlebensfähigem Sperma gezeugt werden. Deshalb überredet er Michelle, drei Tage lang ein mit seinem Sperma gefülltes Präservativ in ihrem Körper zu lagern und es dann zu öffnen. Das Experiment gelingt. Für seine eigenen Kinder interessiert er sich nicht. Für andere umso mehr.
Im Keller eines Hauses in Chaleroi baut er einen ehemaligen Regenwasserspeicher zu einem Verlies um. Es ist ein Meter breit, 215 cm lang, 165 cm hoch und fensterlos. Versteckt wird es hinter einem Regal. Michelle streicht die winzige Zelle gelb, eine fröhliche Farbe, und schmückt sie mit «Tim und Struppi»-Bänden. Dort sperrt er die am 24. Juni 1995 entführten Melissa Russo (8) und Julie Lejeune (8) ein und missbraucht sie. Am 22. August 1995 entführt er Eefje Lambrecks (19) und An Marchal (17), sie werden in das Haus eines Komplizen gebracht.
Wieder wendet sich seine Mutter an die Polizei und bittet sie dringend, das Haus ihres Sohnes nach den vermissten Mädchen zu durchsuchen, doch dies geschieht erst im Dezember wegen Autodiebstahls. Einer der Ermittler hört zwar Kinderstimmen im Haus, dachte aber, sie kämen von der Strasse.
Dutroux wird im Dezember 1995 wegen Autodiebstahls verhaftet, seine Frau soll sich um die Kinder kümmern, weigert sich jedoch, den beiden Kleinen im Keller das Essen vorbeizubringen, sie hält sie für bedrohlich und für Tiere. Manchmal schmeisst sie eine Plastiktüte mit Essen runter, was damit passiert, interessiert sie nicht, lieber füttert sie die beiden Hunde, die das Grundstück bewachen.
Im März 1996 wird Dutroux entlassen. Er zerrt am 28. Mai die 12-jährige Sabine Dardenne und am 9. August die 14-jährige Laetitia Delhez in seinen Transporter. Seine Frau sitzt am Steuer. Doch jetzt hat sich ein Augenzeuge seine Autonummer gemerkt und schon am 13. August werden Dutroux, seine Frau und zwei Komplizen verhaftet.
Von Sabine und Laetitia fehlt jede Spur. Bis Dutroux die Ermittler auf die Zelle in seinem Keller aufmerksam macht. Am 15. August werden die Mädchen befreit, sie sind unterernährt, nackt, verängstigt, als sie aus dem Haus treten, werden sie nur notdürftig vor einer riesigen Medienmeute abgeschirmt, ihre verweinten Gesichter durch die Scheiben des Polizeiautos gehen um die Welt.
Am 17. August führt Dutroux die Polizei zu den im Garten vergrabenen Leichen von Melissa und Julie. Möglicherweise hat er die beiden, fast verhungert, lebendig begraben. Am 3. September verrät er das Versteck der Leichen von An und Eefje. Einmal gelingt Dutroux danach noch die Flucht, er überwältigt im Gericht einen Polizisten, entreisst ihm seine Pistole und flieht, wird jedoch nach wenigen Stunden wieder verhaftet.
Er behauptet, seine Kellerkinder vor noch böseren Mächten beschützt zu haben. Den Missbrauch von Sabine und Laetitia gibt er zu, er habe Sabine nach dem Oralsex Bonbons gegeben gegen den schlechten Geschmack im Mund. Michelle Martin gesteht alles. Sie habe unter Zwang gehandelt, mit Dutroux zusammen zu sein, sei wie in einer Sekte zu leben. Doch eine Angst sei noch grösser gewesen als die vor dem Psychopathen an ihrer Seite: die Angst vor dem Alleinsein.
«Ich habe jetzt keine Angst mehr», sagt sie am 4. März 2004 während des grossen Prozesses vor Gericht, sie habe «Julie, Melissa, An und Eefje niemals gesehen. Ich habe das Versteck nie betreten. Ich konnte diese Realität nicht aushalten. Für mich waren sie wie wilde Tiere, die mich angreifen würden.» Martin und Dutroux sind da seit einem Jahr getrennt. Geschieden sind sie vermutlich bereits seit 1992, als getrennte Haushalte konnten sie mehr Kindergeld beanspruchen.
Den Prozess begleiten 1300 Journalisten aus der ganzen Welt, Belgien ist aus den Fugen, mehrere Minister sind wegen des Falls zurückgetreten. Die schweren Behördenfehler, ohne die einige der Mädchen noch am Leben sein könnten, stützen Dutroux' Behauptung, er habe die Entführungen im Auftrag eines grösseren belgischen Kinderpornografie-Rings ausgeführt, der bis in die höchsten Kreise reiche.
Bis zum Prozessbeginn sind 27 mögliche Zeugen durch einen Unfall, Mord oder Suizid ums Leben gekommen. 2010 wird der Anwalt der Opferfamilien von Melissa und Julie selbst wegen Kinderpornografie verurteilt, sein Sohn versucht, ihn zu erstechen.
Das Elend der Opferfamilien und der Überlebenden ist unvorstellbar, die Trostlosigkeit der Details, die vor Gericht verhandelt werden, tödlich, alle, die in dem Fall ermitteln mussten, sind heute gebrochene Menschen. Marc Dutroux, der heute 65 Jahre alt ist und bis zu seinem Tod in Haft bleiben soll, und seine Gehilfin Michelle Martin (62) haben ein unfassbares Grauen angerichtet.
Michelle Martin hat in den vergangenen Jahren Jura studiert. Im Homeschooling. Unterrichtet hat sie die pensionierte Richterin. Jetzt sucht sie einen Job und findet keinen. Auf die Frage, ob sie nicht eine zweite Chance verdient hätte, sagt Julies Vater ganz klar Nein.