Saime Genç ist vier Jahre alt, als sie erstickt, weil vier randalierende Rechtsextreme das Haus ihrer Familie in Brand stecken. Mit ihr erstickt ihre neunjährige Cousine Hülya. Saimes achtzehn-jährige Schwester Hatice verbrennt. Ebenso die zwölf Jahre alte Gülüstan Öztürk. Saimes Tante Gürsün Ince, 27, bricht sich bei einem Sprung aus dem Fenster das Genick. Fünf Menschen sind tot. Sie gehörten zu einer Familie. 17 weitere werden mit schweren Verbrennungen ins Spital eingeliefert, ein paar sind für immer entstellt.
Es ist das Pfingstwochenende 1993. An Pfingsten, so will es das Neue Testament, soll der Heilige Geist in Feuerzungen auf die Menschen niederfahren, und alle sollen alle Sprachen verstehen und sprechen können. Die Voraussetzung für Frieden. Doch im nordrhein-westfälischen Solingen fährt das Feuer der Intoleranz in ein Haus.
Es ist die vierte Station einer pogromartigen Gewaltwelle von rechts, Anschläge in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992) und Mölln (1992, drei Türkinnen sterben in einem Brand) sind Solingen vorausgegangen. Der deutsche Bundeskanzler Kohl lässt sich weder in Mölln noch in Solingen blicken, er ist gegen einen «Trauertourismus».
Ein Jahr danach besucht die Schweizerin Güzin Kar die Filmschule im deutschen Ludwigsburg. Solingen treibt sie um: «Ich sagte: ‹Dazu müssen wir uns als Filmschaffende doch irgendwie verhalten!› Doch es war kein Thema. Mich hat es nicht losgelassen. Ich las immer wieder die Geschichten der Hinterbliebenen: Wo waren sie, was machten sie? Mich beeindruckte, dass sie nicht aus Solingen weggingen, sondern blieben und sich für den Frieden engagierten. Besonders Mevlüde Genç, Saimes Grossmutter, ist eine grosse Pazifistin, die nie Hass oder Rachegefühle äusserte. Eine wahnsinnig bewundernswerte Frau.»
Saimes Grossmutter erhielt dafür ein Bundesverdienstkreuz. «Wobei das ja auch wieder traurig ist. So muss man sich als Hinterbliebene offenbar benehmen, um Anerkennung zu finden. Für mich sind aber jene, die unversöhnlich bleiben, genauso nachvollziehbar. Saimes Vater etwa äusserte während des Gerichtsprozesses seine Hassgefühle. Er hatte zwei Töchter verloren, wer würde ihn nicht verstehen?»
Eines Tages entdeckt Güzin Kar die Strasse. Sie sucht auf Google Map in Bonn «nach etwas ganz Anderem, einem Tonstudio, irgendwas, ich weiss es nicht mehr, da stosse ich auf diese Strasse». Den Saime-Genç-Ring. Ein Zufallsfund. 556 krumme Meter im Niemandsland am Rand von Bonn. 1998 als Gedenkstrasse an die Brandnacht von Solingen angelegt. 2013 mit einem Gedenkhinweis versehen. Mitten in eine landschaftliche Leere hinein gebaut, erst danach wuchs langsam ein Industriequartier heran. Im Dezember 2019 packt Güzin Kar eine Tasche, setzte sich in den Zug und fährt zum «trostlosesten Ort von Deutschland. Ich musste mir das ansehen.»
Entstanden ist daraus «Deine Strasse» – oder «Your Street», seit die Zeitschrift «The New Yorker» den Film Ende 2021 in seine Kurzfilm-Kollektion aufgenommen hat. «Deine Strasse» ist ein Dokumentarfilm, aber ein sehr freier, eher ein Essay oder eine poetische Annäherung. «Poetisch statt politisch» war Güzin Kars Absicht, sie wollte die Geschichte hinter der kleinen Strasse nicht erklären, nicht analysieren, nicht belehren, einfach darstellen. In all ihrer schäbigen Banalität. Ihre Ansage hat sie souverän eingelöst. Sieben Minuten klare, schlichte, verdichtete Minuten, die Bestürzung, die Trauer entstehen im Kopf.
Güzin Kar entscheidet sich im Film für das grosse Nichts. Für die Strasse unter einem trübgrauen Himmel. Menschen sieht man bloss einmal, klein und von weitem. Es gibt keine Sentimentalität, kein Kinderspielzeug am Strassenrand, kein Leben. Wozu auch? «Ich wollte keine Emotionen in den Bildern, die Emotionen sollten durch die Zusammenhänge, die aufgezeigt werden, entstehen.» Der Text dazu wird von der Schriftstellerin Sibylle Berg gesprochen, Güzin Kar wollte für einmal nicht Bergs Sprache, sie schrieb den Text selbst, sondern Bergs «schöne, dunkle Stimme, ihren eigenwilligen Duktus, der sie von einer Profisprecherin unterscheidet». Und es stimmt, Bergs Stimme hüllt sich wie eine warme, weiche Decke um Saimes Andenken.
«Strassen werden nach Toten benannt», sagt Sibylle Berg im Film. «Als Mahnmale oder Erinnerungsstätten», sagt Güzin Kar, «Strassen darf man nur in Ausnahmefällen nach Lebenden benennen, meist sind das dann Zubringerstrassen oder Privatstrassen, man weiss ja nie, ob die so Geehrten auf ihren letzten Metern im Leben nicht doch noch was anstellen, das nicht so erinnerungswürdig ist. Obwohl sich hinter einigen der Toten, auf deren Namen Prachtstrassen, Gebäude, Schulen getauft wurden, auch Fragwürdiges verbirgt. Viele Strassen in Deutschland sind heute noch nach Nazis benannt.»
Saime war vier Jahre alt, als sie starb. Saime war ein in Deutschland geborenes Mädchen, das Deutsche war, aber von allzu deutschen Deutschen nicht als Deutsche akzeptiert wurde. Für diese gehörte sie zu einer Randgruppe. Da passt es, dass der Saime-Genç-Ring so weit draussen liegt. Saime wurde im Leben und im Nachleben marginalisiert. «Im Zentrum hat man lieber die, an die man gerne zurückdenkt. Saime erlangte durch ihre Ermordung Bekanntheit. Nicht durch eigene Taten, sondern durch Fremdtaten. Der Saime-Genç-Ring ist eine Gedenkstätte, die Schuld- und Schamgefühle auslöst, mit sowas will man im Zentrum nicht konfrontiert sein.»
Ihre Schwester Hatice hätte in der Innenstadt von Solingen eine Gedenkskulptur erhalten sollen, «doch dann wurde sie mit der abenteuerlichen Begründung, dass es sich bei einem weit dezentraleren Standort um den geografischen Mittelpunkt von Solingen handeln würde, verschoben. Jetzt steht sie vor der Schule, die Hatice einst besuchte, und die liegt recht weit draussen. Man will sich mit einem Opfer nicht identifizieren müssen.»
Die vier Männer, die damals für den Tod der drei Mädchen und zwei jungen Frauen verantwortlich waren, haben ihre Gefängnisstrafen abgesessen. Als sie freikamen, waren sie noch immer jung, in einem Alter, das einen Neubeginn erlaubt. Güzin Kar hat auch ihre Geschichten verfolgt, musste aber irgendwann damit aufhören, es war zu belastend.
Im Herbst 2021 geriet «Deine Strasse» in den Oscar-Zirkus. Im Gegensatz zu den langen Filmen, die von einzelnen Ländern eingereicht werden, müssen sich die Regieschaffenden oder Produzierenden selbst anmelden. Sofern ihr Film an mindestens einen von gut hundert ausgewählten Festivals weltweit einen Dokfilm-Hauptpreis gewonnen hat.
Güzin Kar meldete sich also an, landete auf der Longlist und merkte, dass ab da nur noch die Lobbyarbeit zählte. «Da gab es Kurzfilme, die von Netflix, HBO oder vom Guardian realisiert wurden und die ganz andere Netzwerke hatten. Kam hinzu, dass mir ein paar nahmhafte Leute, die schon lange im Business sind, sagten: Dein Film ist beeindruckend, aber wird in Hollywood keine Chance haben, da er keinerlei Hoffnung verbreitet. Hollywood will irgendeinen Funken Hoffnung sehen! Selbst im Dokfilm. Aber es ist nicht meine Aufgabe, Hoffnung zu verbreiten, das wäre pathetisch. Es gibt in dieser Geschichte keine Hoffnung. Saime ist tot. Und bleibt tot.»
2022 würde Saime 34 alt. Vielleicht hätte sie einen Blumenladen, vielleicht würde sie eine Dissertation schreiben, möglicherweise hätte sie eine eigene Familie. Saime ist heute in Asphalt verewigt. Ihre Strasse ist keine Strasse, auf der man innehält oder durch die man gerne spaziert. Sie ist bloss eine Unterlage für deutsche Autos.
Obwohl wir uns doch unserer Individualität rühmen.
Geschürt von den Rechtspopulisten, wird aus Abneigung Hass.
Aus Hass werden Gewalttaten, und daraus werden Rachegefühle. Es ist eine schrekliche Abwärtsspirale. Vor 80 Jahren mündete sie in den Holocaust.
Nur eine dünne Mauer aus Anstand steht zwischen dem freiheitlichen Leben in Vielfalt und dem Gleichschritt der Masse der Fantasielosen.
Die USA sind dem Faschismus weit näher, als man glauben könnte, die Türkei und Russland sind bereits voll erfasst.
Der Kurzfilm ist sehr gelungen.