«Eine Wandergruppe reicht nicht» – so kommst du aus der Einsamkeit heraus
Frau Steiner, Ihr Mann ist plötzlich verstorben. Wie haben Sie gemerkt, dass Sie als Alleinstehende mit einer anderen Einstellung als zuvor durchs Leben gehen müssen?
Verena Steiner: Als das Unglück passierte, war ich 65. Wir hatten noch Pläne. Nach der Trauerphase spürte ich so eine Leere. Ich merkte, dass es nicht reicht, mich einer Wandergruppe anzuschliessen, dass es weit mehr braucht. Deshalb begann ich, zum Thema Einsamkeit zu recherchieren. Dazu übte ich, allein zu wandern und allein in ein Konzert oder ins Kino zu gehen.
Was haben Sie herausgefunden?
Ich habe gemerkt: Auch das Alleinsein ist lernbar, und zwar relativ rasch. Vorausgesetzt, man hat sich entschieden, ein neues Kapitel im Leben aufzuschlagen.
Wie hat für Sie dieser Lernprozess begonnen?
Ich merkte, dass es mir an Mut fehlte, alleine durch den Wald zu gehen, obwohl mir das guttun würde. Also habe ich einen Selbstverteidigungskurs gemacht. Das half: Ich wurde mit jeder Wanderung sicherer und habe viel neues Terrain entdeckt. Ein unschlagbar gutes Gefühl!
Von solchen «Lern- und Mutmomenten» sprechen Sie immer wieder.
Die Gefahr ist bei vielen, die alleine sind, dass sie sich zurückziehen. Ich ermuntere sie, öfter aus dem Haus zu gehen und bewusst zu lernen, auch allein etwas zu unternehmen. Selbst wenn es zunächst Überwindung braucht. Natürlich macht es zu Beginn weniger Spass, allein zu wandern oder in ein Konzert zu gehen. Es braucht Mut, und genau darum geht es: mutiger zu werden und uns solchen Herausforderungen zu stellen. Es macht uns stärker und unabhängiger, auch in anderen Lebensbereichen. Etwas mehr von solchem Mut würde auch vielen guttun, die in einer Zweierbeziehung sind.
Also raten Sie auch Nicht-Singles, das Alleinsein zu üben?
Man sieht es ja schon bei den kleinen Kindern: Wenn ein Knirps zum ersten Mal ein paar Schritte für sich machen kann – der Stolz, den sie haben! Ich glaube, wenn solche Dinge aus eigener Kraft gelingen, ist das eine der grössten Freuden, man spürt Selbstwirksamkeit. Wenn man immer in einer Beziehung ist, kennt man das kaum mehr.
Es geht aber nicht nur darum, mutig zu sein. Viele Alleinstehende fühlen sich ja auch einsam.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und will von seinen Mitmenschen gesehen und gebraucht werden. Da ist es natürlich ein Unterschied, ob man von nahen Bezugspersonen umgeben ist oder ein Gespräch am Bankschalter hat, das ist nicht dasselbe. Wenn man aber ein feineres Gespür für Verbundenheit mit sich und der Welt entwickeln kann, tragen auch sogenannte Mikromomente von Verbundenheit dazu bei.
Wie schafft man das?
Man kann nur schon im Tram einem Baby in die Augen schauen, es anlächeln und gegenseitig Freude haben. Das sind so Mikromomente der Verbundenheit, die man selber initiieren kann, und meistens funktioniert es. Nett und freundlich sein und einfach mal mit einem Lächeln anfangen, das können sogar Introvertierte lernen.
Dafür muss man aber bei sich selber anfangen, oder?
Ja, genau. Wichtig ist die Verbundenheit mit sich selbst, das wirkt der emotionalen Einsamkeit entgegen. Dabei lernt man, beispielsweise mithilfe von Achtsamkeit und Meditation, fürsorglicher mit sich selbst umzugehen und sich so gern zu haben wie eine Mutter. Eine ideale Mutter liebt ihr Kind, aber sie ist wenn nötig auch konsequent. Klar, wenn man einmal nicht folgt, ist die Mutter nachsichtig. Aber das nächste Mal muss sie beharrlich bleiben.
Wie schafft man das konkret?
Wenn man keinen Partner oder keine Familie hat, die einem dieses emotionale «Bödeli» geben, kann man es mit Mitgefühlsmeditation probieren und üben, sich selbst ein Stück weit ein liebevoller Gefährte zu sein. Auch die Pflege von nahen Freundschaften hilft. Eine verstorbene Tante von mir hatte statt einer Partnerschaft mehrere enge Freundinnen, mit denen sie sehr nahe Beziehungen pflegte.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch noch von der existenziellen Einsamkeit. Was meinen Sie damit?
Viele ältere Menschen werden damit konfrontiert, wenn sie in den Ruhestand gehen. Sie denken sich: «Ich geniesse für die nächsten 30 Jahre einfach das Leben.» Da kommt die Sinnkrise garantiert.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Man braucht eine Aufgabe, ein Projekt, das einen so richtig packt. Ich habe eine 90-jährige Frau im Altersheim gefragt, wie es da so sei. Daraufhin hat sie gestrahlt und gesagt: «Weisst du, ich habe mir eben schon vorher ein Projekt ausgedacht.» Und wenn eine 90-Jährige sagt, sie hat ein Projekt, dann spitze ich die Ohren.
Was hatte die Frau für ein Projekt?
Obwohl sie schon am Stock ging, hat sie sich vorgenommen, von S-Bahn-Station zu S-Bahn-Station zwischen Frauenfeld und Weinfelden an der Thur entlangzulaufen, Abschnitt für Abschnitt. Das ist doch genial! Wer ein Projekt oder eine Aufgabe hat, empfindet mehr Sinn in seinem Leben.
Machen wir nochmals einen Schritt zurück. Was, wenn jemand einfach nicht glücklich ist, weil er oder sie sich so sehr eine Partnerschaft wünscht?
Sollte es trotz innigem Wunsch mit der Partnersuche nicht klappen, braucht es umso mehr Akzeptanz für die Situation. Das bedeutet, dass man die momentane Lebensrealität so nimmt, wie sie nun mal ist, und dann versucht, etwas wirklich Gutes daraus zu machen. Mir hat dabei der Leidensdruck geholfen; ich musste etwas unternehmen. Man könnte sich auch sagen: Ich trotze jetzt dem Schicksal und probiere einmal aus, wie das ist.
