«Du bist eh nur zum Bumsen hier»: Eine Rekrutin erzählt, was sie in der Armee erlebt hat
Paula S. (Name geändert) leistet freiwillig Militärdienst als Fahrerin. In der Rekrutenschule ist sie die einzige Frau in ihrem Zug. An einem Wintertag 2023 versammeln sich alle in einem Logistikzentrum im Kanton Freiburg. Paula S. bildet in dieser Zeit ein Zweierteam mit Navin P. (Name geändert). Sie haben die Aufgabe, einen Mercedes Sprinter samt Anhänger zu einem Waffenplatz zu fahren. Er soll den Wagen steuern, sie ist Beifahrerin. Beide sind etwa 20 Jahre alt.
Als sie in der Garage auf die Abfahrt warten, machen die vorbeigehenden Rekruten sexistische Sprüche. Zum Beispiel: «Eine Frau als Beifahrerin, da muss es doch einen Blowjob geben.» Solche Aussagen hört sie in der Rekrutenschule ständig. Viele Kollegen reden ihr ein, dass sie als Frau «nur zum Bumsen» im Militär sei, wie sie später zu Protokoll geben wird.
Navin P. habe sie bereits «tausend Mal» aufgefordert, ihn sexuell zu befriedigen, wenn sie schon «als Frau» neben ihm im Fahrzeug sitze. Er selbst prahlt von seinen «magischen Fingern», mit denen er sie befriedigen könne.
Unter Schock in einem fahrenden Kleinbus
So kommt es zur Tat, die einvernehmlich beginnt. Auf der Fahrt im Kleinbus streift sie ihre Hosen runter und streckt ihm ihr nacktes Hinterteil entgegen. Mit seiner rechten Hand befingert er sie, mit der linken Hand hält er das Steuerrad. Sie empfindet keine angenehmen Gefühle, wie sie später aussagt.
Nach einigen Minuten zieht sie ihre Hose wieder hoch. «Jetzt bin ich an der Reihe», sagt er und zieht während der Fahrt seine Hose runter. Er fordert sie auf, ihn oral zu befriedigen. Sie beginnt damit. Er fragt sie, ob er ein kurzes Video von ihr machen dürfe. Sie willigt ein, unter der Bedingung, dass er es niemandem zeige. Er filmt sie einige Sekunden lang von hinten. Danach sagt sie, sie wolle aufhören. Es sei blöd, was sie machten. Doch er presst ihren Kopf nach unten. Sie beschreibt den Druck als «nicht übertrieben», aber stark genug, um sie «im Zaum zu halten». Nach etwa dreissig Sekunden gelingt es ihr, sich vom Schock und von ihm zu befreien.
Währenddessen fahren sie mit 50 bis 80 Stundenkilometern durch ländliches Gebiet. Hätte sie sich heftig gewehrt, hätte sie einen Unfall riskiert.
Danach fragt er immer wieder, was los sei. Sie sitzt schweigend im Beifahrersitz und richtet ihren Zopf, der verwuschelt ist. In einer Einvernahme sagt sie, sie sei damals sehr offen mit Sex umgegangen – nicht aber mit ihren Gefühlen.
Die Kameraden spotten über sie im Gruppenchat
Warum aber hat sie überhaupt sexuelle Handlungen mit ihm vorgenommen? Auf diese Frage antwortet sie in einer Einvernahme unter Tränen: «Ich weiss es nicht. Ich bin das gerade am Lernen.» Zur Untersuchungsrichterin sagt sie später, sie habe gehofft, sich im Militär einen grösseren Kollegenkreis zu verschaffen, wenn sie den Angeklagten befriedige.
Nach dem Vorfall wechselt sie ihren Partner für die Fahrdienste. Niemand hätte von der Tat erfahren, wenn Navin P. nicht sein Versprechen gebrochen hätte. Er lädt das Video in den Gruppenchat der Fahrer. Sie ist ebenfalls in diesem Chat und durch ihren blonden Hinterkopf identifizierbar. Die Kameraden spotten darüber und nennen ihren Namen. Sie versucht, sich mit Humor zu retten, und antwortet mit «hiiiier ja 💀💀».
Die Geschichte spricht sich in der Kaserne herum – bis zum Oberleutnant. Er reicht Strafanzeige ein. Navin P. bestreitet alles und wirft Paula S. vor zu lügen. Sie habe «ein freches wie auch sexuell anregendes Mundwerk» und habe in der Kaserne mit vielen Kameraden einen sexuellen Umgang gehabt.
Paula S. hingegen beschönigt nichts und belastet sich selbst. Sie schildert, wie sie in eine Rolle geriet, die ihr nicht entsprach.
Das Militärgericht 2 verhandelt den Fall in Fünferbesetzung. Nur der Präsident muss Jurist sein. Zwei Richter sind Offiziere, zwei sind Unteroffiziere oder Angehörige der Mannschaft. Im schriftlichen Urteil aus diesem Jahr stuft das Gericht die Aussagen von Paula S. als glaubwürdig ein: «Es erscheint realitätsnah, dass die Privatklägerin sich zu Beginn der Rekrutenschule von ihren Kameraden hat dazu verleiten lassen, mit dem Angeklagten im Sprinter sexuelle Handlungen vorzunehmen.»
«Die Armee ist noch kein guter Ort für Frauen»
Noémie Roten war ebenfalls Fahrerin in der Armee. Sie sagt: «Ich kann gut nachvollziehen, wie eine junge Frau in einem solchen Umfeld in diese Rolle gedrängt werden kann.»
Roten absolvierte die Rekrutenschule vor 17 Jahren. Heute ist sie Richterin des Militärgerichts 1 und Präsidentin des Initiativkomitees für einen «Service Citoyen»; über die Vorlage stimmt die Schweiz am 30. November ab. Die Wehrpflicht soll in einen Dienst für alle umgewandelt werden. Frauen sollen wählen können, ob sie sich in der Armee oder einer anderen Einsatzorganisation engagieren wollen.
Heute liegt der Frauenanteil in der Armee unter 2 Prozent. Gemäss einer Umfrage könnten sich aber 26 Prozent der Schweizerinnen vorstellen, Militärdienst zu leisten. Roten sagt: «Erst wenn eine Gruppe eine signifikante Grösse erreicht, kann sie auch Macht ausüben.»
Roten war die einzige Frau in der Kaserne. «Ich fiel auf wie eine Astronautin.» Sie hatte ein eigenes Zimmer und eine eigene Dusche – dadurch blieb ihr Zugang zur Gruppe stets anders. «Ich hatte zwar mehrheitlich gute Kameraden und Vorgesetzte. Doch richtig dazu gehörte ich nie.»
In ihrer Dienstzeit sei sie mit zwei Vorurteilen konfrontiert gewesen: Frauen seien in der Armee entweder auf der Suche nach Sex oder nach einer Karriere bei der Polizei. «Das hörte ich ständig.» Solche Stereotypen seien in der ganzen Gesellschaft verbreitet. «Aber in einer Organisation mit einem Männeranteil von über 98 Prozent sind sie noch ausgeprägter.»
Eine Studie zeigte vor einem Jahr: Sexuelle Gewalt ist in der Schweizer Armee verbreitet. Und die Militärjustiz bringt regelmässig Fälle zur Anklage.
Wer haftet für Schäden in der Armee?
Das Militärgericht hat Navin P. wegen sexueller Nötigung, grober Verkehrsregelverletzung und Nichtbefolgung von Dienstvorschriften schuldig gesprochen. Er erhält dafür eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und eine Geldstrafe – beides bedingt. Wird er innert zwei Jahren nicht rückfällig, tritt die Strafe nicht in Kraft.
Der Verurteilte stammt aus dem Aargau. Sein amtlicher Verteidiger vertritt neuerdings auch den Vierfachmörder von Rupperswil. Der Anwalt behauptete, der Staat hafte, wenn ein Angehöriger der Armee «in dienstlicher Verrichtung» einen Schaden verursache.
Das Gericht widerspricht. Die sexuelle Handlung sei nicht in einer dienstlichen Tätigkeit geschehen. Deshalb muss Navin P. eine Genugtuung von tausend Franken für Paula S. zahlen. Er ist heute Soldat. Sie ist zur Wachtmeisterin aufgestiegen. (aargauerzeitung.ch)


