Ich hab den Fehler gemacht und wieder einmal dieses Lied gehört, bei dem ich seit Jahren weinen muss. «Ne me quitte pas», verlass mich nicht. Geschrieben hat es 1959 Jacques Brel, interpretiert haben es Unzählige, etwa Nina Simone, die Frau mit der Stimme eines um Mitternacht sterbenden Sturms.
Das Lied besingt die Klage eines Mannes, der seine flüchtige Liebste anfleht, doch zu bleiben. Sie antwortet nicht. Zuletzt bittet er darum, der Schatten ihres Schattens sein zu dürfen. Oder wenigstens der Schatten ihres Hundes.
Jacques Brel kreist in seinem Lied nicht um drängende Gesellschaftsfragen, aber um die wundervollen Obsessionen Poesie, Liebe und Musik. Abertausende von Menschen haben deshalb «Ne me quitte pas» zum schönsten Liebeslied des 20. Jahrhunderts gewählt. Sein Effekt: Weinen wollen, abstürzen, um kathartisch erlöst nach vier Minuten wieder aufzutauchen. War Brel Shakespeare? War er nicht. Aber er schuf mit seinem Lied die Essenz einer Erfahrung.
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Und was ist mit Horrormeister Stephen King, bei dessen Anblick etwas in mir leise «Vater» flüstert? So, wie es «Schwester» sagt, wenn ich sehe, dass die Regisseurin Petra Volpe mal wieder was auf Facebook gepostet hat? Und «Mutter», wenn ich spät nachts Madonnas Stimme aus dem Radio eines Taxis höre? Sind ihre Werke für die Ewigkeit? Wahrscheinlich nicht. Aber sie haben einmal mit aller Macht in meine Gegenwart gegriffen, waren für eine Jugend, ein Jahrzehnt, einen Monat allgegenwärtig.
Sie sind darin allem vergleichbar, was da ist, ohne dass ich danach frage. Ist nicht unser ganzer Alltag das Resultat kreativer Anstrengungen? Privilegiert, wie wir sind, beruht jeder Abfallsack auf Jahrzehnten schweizerischer Grafiktradition. Die neue Arbeitskleidung des Migros-Ladenpersonals ist die Arbeit der Modedesignerin Ida Gut. Ein sehr kühner Mix aus dem klassischen Migros-Orange, Disco und Minimalismus. Und auf welchen ästhetischen Prinzipien basiert eigentlich die Prägung von WC-Papier?
Würde man Design als Pyramide betrachten, so balancierte zuoberst auf der einsamen Spitze wahrscheinlich sowas wie ein Eames-Chair, aber sein demokratisches Fundament würde von lauter Ikea-Billy-Regalen gebildet.
Kultur ist beides: der Himmel der Hochkultur und die Heimat im Alltag. Unterhaltung und Halt. Was wir bewusst als kulturelle Güter erwerben – ein Bild, ein Abend im Theater, im Kino, im Konzert –, aber auch alles andere, was wir kaufen, sehen und hören, sofern es nicht die Vögel am Himmel und die Blumen auf dem Feld sind.
Das Schöne ist, dass wir selbst in der weltflüchtigsten Zerstreuung lernen können. Weil wir uns fallen lassen dürfen und doch nicht aufschlagen. Weil andere für uns Netze gesponnen haben. Ein langer Roman etwa oder eine vielteilige Serie ermöglichen gründlichere Alltagsflucht und Selbstauflösung als jede Droge. Sie sind Freunde, die uns mit ihrem grösseren Wissen auffangen, beruhigen und weitertragen. Über die Krisen hinaus und über unsere primäre Dummheit.
Krieg und Terrorismus zum Beispiel waren für mich als Schweizerin immer etwas Abstraktes. Bis ich Tolstojs Schlachtenepos «Krieg und Frieden» las. Bis ich die Kriegsheimkehrer-Serie «Homeland» und die Völkermord-Theaterstücke und -Filme von Milo Rau sah. Die Zeit zwischen ihnen ist erstaunlich lang, die Wege jedoch verblüffend kurz.
Aber Kultur muss auch anderes können. Muss uns aus der Komfortzone der Heimat und über Grenzen hinausstossen, die wir gar nie kennen lernen wollten. Muss uns enteignen und dem Unheimlichen, das sich so geschickt hinter dem Heimeligen verbirgt, zum Frass vorwerfen.
Der an sich kleine, nicht wirklich teuer gemachte Independent-Horrorfilm «Get Out» von Jordan Peele, in dem eine konservative weisse Familie Menschenexperimente mit Schwarzen vollzieht, ist gerade der klügste Kommentar auf das Rassen- und Klassensytem in Amerika. Kein Wunder, ist er jetzt vierfach für die Oscars nominiert. Ohne «Vom Winde verweht» wär er wahrscheinlich nicht denkbar.
Es gibt keine Gegenwart ohne Vergangenheit, Stephen Kings wichtigste Vorbilder sind Anton Tschechow und James Joyce. Das alte Lied vom «Simelibärg» wirkt mit seinem Sehnsuchtsstoff auch in den Songs von Patent Ochsner und Züri West nach und – etwas fleischlicher und auf Englisch – bei den fünf traurigen Bieler Jungs der Band Puts Marie.
Die Kenntnis dessen, was hochtrabend kulturelles Erbe genannt wird, gibt unserer schnell auf die Erdoberfläche getupften Existenz eine Tiefe, einen Anker, zwingt uns, einander in Beziehungen zu setzen, Entwicklungen zu verstehen – und vielleicht lernen wir gar, ein paar Fehler zu vermeiden.
Aber wieso können wir dafür nicht einfach Geschichtsbücher lesen? Gut, daran hindert uns niemand und abstraktere Gemüter mögen damit die Welt durchdringen. Aber die Emotionen, die sinnliche Erschütterung, die erreichen uns direkter über Kunstwerke. Es ist ein Unterschied wie zwischen einem Kochbuch und Essen im Mund. Wir brauchen beides, aber Letzteres brauchen wir dringender.
WOW.
WOW!
Danke, Simone.