Daphne Bridgerton ist ein richtiges Milchlamm von einer Frau. Weisser und reiner von Gemüt und Geblüt geht nicht mehr. Doch Daphne verliebt sich in den tödlich attraktiven Duke of Hastings, und spätestens als der ihr beibringt, wie man masturbiert, ist sie verloren. Auch der Duke ist in Daphne verliebt, das wird ihm klar, als er mit ihr zusammen das Gemälde eines Sonnenauf- oder -untergangs betrachtet. Doch dann gibt's noch unendlich viele Probleme und schliesslich mündet das Drama der beiden in der Frage: Hat Daphne den Duke beim Samenraub vergewaltigt?
Dies ist bloss die krasseste aller Fragen, die gerade um «Bridgerton» diskutiert werden. «Bridgerton» ist die im Jahr 1813 spielende Netflix-Serie, in der reiche oder gefallene Mädchen einen Mann finden müssen, ob der ihnen nun gefällt oder nicht.
Ins Auge sticht jedoch etwas ganz Anderes. Der Duke, die Queen (Golda Rosheuvel) von England, wo «Bridgerton» spielt, der halbe Hofstaat und viele weitere Protagonisten sind schwarz. Wieso? Weil Liebe alle Grenzen überwindet und Schranken niederreisst natürlich, was denn sonst. King George III. hat nämlich aus lauter Liebe die 17-jährige schwarze deutsche (nichts ist unmöglich) Prinzessin Charlotte geheiratet, und seither steht dem gesellschaftlichen Aufstieg von Schwarzen in England nichts im Weg.
Das muss so sein. Nicht, weil es in den historistischen Kitschromanen von Julia Quinn stehen würde, aus denen «Bridgerton» entstanden ist. Sondern weil da erstens das hartnäckige Gerücht ist, dass die echte Queen Charlotte eventuell afrikanische Vorfahren gehabt haben könnte. Und weil «Bridgerton» zweitens aus Shondaland kommt. Und die Serien-Produktionsfirma Shondaland gehört einer einzigen Person: Shonda Rhimes.
Shondaland steht für vieles: Für die Spitalserie «Grey's Anatomy», die Washingtoner Politserie «Scandal», die Anwaltsserie «How to Get Away With Murder». Für Frauen in den Hauptrollen, die eigensinnig, unberechenbar, laut, rabiat, gebrochen, berechnend, leidenschaftlich, überschäumend, egoistisch, mächtig, gewalttätig und untreu sind. Für das Rezept, dass Sex dramaturgisch gesehen immer die Lösung ist. Verheddern sich zwei Figuren aus Shondaland in einen ausweglosen Konflikt, können sie gar nicht anders, als Sex zu haben.
Vor allem aber steht Shondaland-Boss Shonda Rhimes für sogenannt «farbenblindes» Casting. Wenn sie ein Drehbuch schreibt, erklärte sie 2006 Oprah Winfrey, stellt sie sich die meisten Figuren nicht leiblich vor. Und beim Vorsprechen geht die Rolle an diejenigen, die ihr mit dem entsprechenden Text im Mund am besten gefallen. So kam der Cast von «Grey's Anatomy» zustande. Ein revolutionärer Akt.
Gut, für die Besetzung der Titelheldinnen von «Scandal» mit Kerry Washington («Django Unchained») und «How to Get Away With Murder» mit Oscargewinnerin Viola Davis dürfte das so nicht mehr gegolten haben. Aber sonst: Ein effizientes Konzept, denn amerikanisches Fernsehen, so Rhimes, müsse dringend die Realität der amerikanischen Gesellschaft abbilden. Und gleichzeitig noch mittels gehöriger Übertreibung darüber hinausweisen, muss man hinzufügen. Kühne Behauptungen in die Welt setzen wie in «Bridgerton». Schliesslich besteht der Zauber der Fiktion – und um solche handelt es sich bei «Bridgerton» – immer aus Behauptungen.
2017 lockte Netflix Shonda Rhimes mit 150 Millionen Dollar und lukrativen Zusatzklauseln vom Sender ABC (der mittlerweile zu Disney gehört) weg, wo sie pro Jahr für ein Budget von 350 Millionen Dollar rund 70 Stunden Sendezeit herstellte (45 davon als Drehbuchautorin oder Schöpferin), die in 67 Sprachen synchronisiert wurden und weltweit Folge für Folge 30 Millionen erreichten. Shonda Rhimes war damals in ihren eigenen Worten «eine Titanin».
«Wisst ihr, wer das sonst noch macht? Niemand!», sagte sie 2016 in einem TED-Talk. «Ich liebe es zu arbeiten. Es ist kreativ und mechanisch und anstrengend und berauschend und lustig und verstörend und klinisch und mütterlich und grausam und vernünftig. Wenn ich mich tief in die Arbeit stürze, gründe ich eine Nation, renne ich einen Marathon, positioniere ich Truppen, bin ich Beyoncé.» Die Folge war ein Burnout, «die Welt wurde grau, alles schmeckte nach Staub».
Die Titanin kam 1970 als letztes von sechs Kindern in Chicago zur Welt. Ihr Vater war Lehrer, die Mutter Hausfrau, und Shonda liebte nichts mehr als Kassetten mit selbsterfundenen Geschichten vollzuschwatzen. Dass sie Geschichtenerfinden einmal zu ihrem Lebensinhalt machen könnte, kam ihr damals nicht in den Sinn, sie träumte davon, Ärztin, Anwältin oder Politikerin zu werden, genau die Frauen also, die sie später zu Serienheldinnen machte.
In der High School hiessen ihre Vorbilder Whoopie Goldberg und Toni Morrison, sie war Mitglied einer afroamerikanischen Theatertruppe und schrieb in ihrer Freizeit Fiction. Schliesslich studierte sie Drehbuchschreiben in Los Angeles, jobbte erst für eine Werbefirma und dann für die Produktionsfirma von Denzel Washington.
Zu ihrem ersten Drehbuchauträgen gehörten das Sequel von «Plötzlich Prinzessin» und «Not a Girl» mit Britney Spears. Herzensangelegenheiten waren das nicht. Denn Shonda Rhimes Herz gehörte etwas ganz anderem: Stundenlangen Dokumentationen über den Spitalalltag. Über die Gespräche, die Ärzte führen, während sie jemanden aufschneiden. Eine Leidenschaft, die sie mit ihren Schwestern teilte. «Grey's Anatomy» war unausweichlich. Und wurde 2005 der Start zu Shonda Rhimes Imperium.
Gemeinsam stehen Murphy und Rhimes nun für eine neue Weltordnung, für Sichtbarmachen von Differenzen durch Umkehrung der Verhältnisse, für Toleranz und Inklusion. Beide verpacken ihre Anliegen in Storys, die dermassen dreist süffig und trashig daherkommen, dass alle, die auch nur einen Hauch von Eskapismus-Bedürfnis verspüren (und wer tut das seit dem Einzug von Corona in unser Leben nicht), hilflos die Waffen strecken müssen vor soviel hemmungslos unterhaltsamer Prachtentfaltung.
Das ist nicht immer gleich gut, gelegentlich erzeugt die massenhafte Nachfrage nach ihren Produkten auch unsorgfältige Sturzgeburten, aber dass es den beiden und damit auch Netflix gelingt, ganz furchtlos im Kern hochpolitisches, gesellschaftskritisches Material hochpopulär zu machen, das ist schon bewundernswert. Und zeigt sehr schön, wie sehr wir die sanft bewusstseinsformende Macht der Fiktion im Hintergrund unseres Alltags brauchen.
True: «Bridgerton» ist Rosamunde Pilcher mit Sexszenen.