Wie so viele Geschichten aus Deutschland beginnt auch diese im Zweiten Weltkrieg. Mit einem idyllischen Fachwerk-Örtchen namens Allendorf mitten in Hessen, um das die Nazis einen Gürtel aus Rüstungsindustrie legen. Sie bauen flache Fabrikgebäude und pflanzen Bäume auf den Dächern. Tarnbäume für die Tochterfirma der Dynamit AG. Schliesslich sollen die Hallen, in denen gut 17'000 Zwangsarbeiter und etliche Kinder aus Osteuropa Bomben mit dem Sprengstoff TNT füllen, von oben nicht erkennbar sein. Die Fabrikarbeiterinnen, sagt die Berliner Dokumentarfilmerin Maria Speth an einem vergoldeten Septembermorgen in Zürich, hätten damals eine leuchtend gelb gefärbte Haut gehabt wegen des TNT.
Nahe der heutigen Georg-Büchner-Schule liegt das Lager Münchmühle, ein Aussenlager des KZs Buchenwald. Nach dem Krieg werden die alten Fabriken umgerüstet, deutsche Heimatvertriebene kommen nach Allendorf, später Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und schliesslich wird Allendorf zu gross für ein Dorf, deshalb heisst es seit 1960 Stadtallendorf. Kein schöner, aber ein logischer Name. Über die Hälfte der Menschen von Stadtallendorf hat heute einen Migrationshintergrund oder keinen deutschen Pass, der Ort vollzog damit die gründliche Umkehrung dessen, was die Nazis einst vorhatten.
Über all dies gibt es nun einen Film. Das heisst, über die Kinder von Stadtallendorf und wie sie sich zu ihrer Heimat in Deutschland und deren Vergangenheit verhalten. Und zu ihren anderen Heimaten. Und zueinander, was weder einfach noch selbstverständlich ist, wenn sich in einer Schulklasse Kinder mit Eltern aus zwölf verschiedenen Nationalitäten befinden. Kinder, von denen einige in Deutschland geboren sind, während andere erst ein Jahr lang hier leben.
Eine Kraft, die Träume kanalisiert und Realitäten schafft, die Potentiale erkennt und vor allem bei andern für Verständlichkeit und Verständigung sorgt. Die den «Blick auf die Fähigkeiten der Schüler richtet, nicht bloss auf die Defizite», sagt Maria Speth. Es braucht einen Herrn Bachmann. Denn dies ist der Film von Maria Speth: «Herr Bachmann und seine Klasse».
Es handelt sich um die letzte Klasse eines ausserordentlichen Pädagogen an der Georg-Büchner-Schule, der Film hat an der Berlinale einen silbernen Bären und den Publikumspreis gewonnen, er dauert anmassende 217 Minuten, was erstaunlicherweise kein bisschen stört, denn die Kinder öffnen sich zusehends, ihre Geschichten werden reicher und persönlicher, sie wachsen einem rasend schnell ans Herz, und wenn das Schuljahr zu Ende ist, und alle Herrn Bachmanns letztes Unterrichtszimmer gemeinsam leerräumen, sitzt man mit ihm zusammen in dem leeren Raum und heult ein bisschen.
Sein Klassenzimmer war nicht irgendeines, das war ein grosser Raum in einem abbruchreifen Haus, den Bachmann zu einer Zuflucht machte. Es gibt da Dutzende von Musikinstrumenten, Schlagzeug, Gitarren, denn gelegentlich, wenn das Reden zu schwierig wird, hilft es, gemeinsam zu musizieren. In der Musik, sagt Speth, «kriegen die Kinder ein gutes Gefühl, sie fühlen sich wertvoll im besten Sinn, das ist in ihrem Alter ganz elementar. Sie beherrschen die Sprache noch nicht richtig, sie sind schulisch benachteiligt, aber sie kriegen die Möglichkeit, sich anders auszudrücken.»
Beim Elterngespräch lässt Herr Bachmann Stefi ihrem eigenen Vater vorsingen und plötzlich kapiert der was und hat Respekt vor seiner Tochter. Musik hilft auch bei der Vermittlung heikler Themen. Homosexualität besingt Herr Bachmann mit einem Lied über schwule Schafhirten. Dann wird diskutiert. Stefi findet die Idee einfach nur «eklig». Kopftuchmädchen Ferhan will ihre ältere Schwester fragen, was der Koran zu Homosexualität meint. Rabia meint, wenn Leute sich lieben, sei das doch einfach schön.
Es gibt im Klassenzimmer auch ein selbstgezimmertes Bett, und wenn eine Schülerin zu müde ist, weil sie zuhause viel zu viel helfen musste, dann darf sie sich schlafen legen. «Wenn jemand Sorgen hat, darf er die mitbringen und darüber reden. Er bringt sie ja sowieso mit», sagt Speth. Es gibt Probleme und es gibt Lösungen und Herr Bachmann schafft Lösungen. Indem er den Raum bietet und sich unendlich viel Zeit nimmt. Beruhigend, dass er daneben noch Zeit für eine eigene Familie hat.
Maria Speth und ihr Team, darunter ihr Partner und Kameramann Reinhold Vorschneider, begleiteten den Lehrer und seine Klasse 2017 mehrere Monate lang. «Die Kinder integrierten uns in ihre Gemeinschaft, wir waren Teil der Klasse, haben zusammen gegessen und geredet, Reinhold hat Nachhilfeunterricht gegeben. Was uns begeistert hat, waren die Fähigkeiten der jungen Menschen, ihre direkte, offene Art. Das sind sehr schöne und besondere Menschen, für mich die Stars des Films», so Speth.
Die Unvoreingenommenheit führt oft zu ungemein komischen Situationen. Einmal lesen sie einander in Deutsch selbst erfundene Geschichten vor. «Es war perfekt, ich bin fast eingeschlafen!», sagt Cengiz, weil ihn die Geschichte an die Gutenachtgeschichten seiner Mutter erinnert, bei denen er immer so gut einschläft.
«Die haben das relativ schnell als Selbstverständlichkeit genommen», sagt Vorschneider, «und das war dann im Ablauf des Unterrichts auch gar nicht mehr so sehr in ihrer Wahrnehmung. Wir waren Teil des Mobiliars. Grundsätzlich war es bei diesen Kindern so, dass sie gar nicht so stark den Impuls zur Selbstdarstellung hatten, was aus meiner Sicht mit der sozialen Schicht zu tun hat, aus der sie kommen. Auch in ihren Elternhäusern wird nicht sehr viel gesellschaftlicher Schein aufgebaut. Deshalb praktizieren sie das auch nicht.»
Mit der Geschichte von Stadtallendorf wird die Klasse bei einer Führung durch das Dokumentationszentrum der Stadt konfrontiert. Ein Mädchen realisiert, dass es mit seiner Herkunft im Krieg als Kinderarbeiterin in der Bombenfabrik gelandet wäre. Ein Dokfilm über die Ankunft der ersten Gastarbeiter in Deutschland verändert die Sicht anderer auf ihre Eltern und Grosseltern nachdrücklich.
In Deutschland wird «Herr Bachmann und seine Klasse» als der Film gefeiert, der seinem Publikum den Glauben an das Gute im Menschen zurückgibt. Ja, tut er tatsächlich. Herr Bachmann ist kein Sonderpädagoge, weder anthroposophisch noch aus einem besonders liebevollen Elternhaus.
Und heute? Was geschah seit dem Abspann des Films? Viele aus Herrn Bachmanns Klasse schafften den Sprung ins Gymnasium. Die Lehrerin Frau Bal, die im Film hochschwanger ist und weinen muss, weil ein Gefühl von Verlust sie überwältigt – etwa wenn Schülerin Ilknur sagt, sie würde sich in der Türkei wohler fühlen als in Deutschland, «weil dort das Grab von meinem Opa ist» –, ist heute Mutter eines Vierjährigen. Herr Bachmann wurde von seiner Frau ein paar Tage lang in den Wald geschickt, um sich darüber klar zu werden, ob es ein Leben nach dem Lehrerdasein gibt. Er lernte, dass es das gibt.
Und was macht Stefi? Ist sie ihrem eigentlichen Traum, Ärztin zu werden, näher gekommen? Oder wird sie doch Sängerin? «Nein», sagt Maria Speth. Stefi musste nach Bulgarien zurück. Und da verliert sich ihr Weg.
«Herr Bachmann und seine Klasse» wird am ZFF noch einmal am 3. Oktober gezeigt. In Zürich läuft er ab dem 4. Oktober im regulären Kinoprogramm, ausserhalb von Zürich bereits ab dem 30. September.
Dieser Satz ist mir so im Gedächtnis hängen geblieben. Come SD you are. Wie schön.