Nicht noch ein Prequel! Braucht es in einer Blockbuster-Landschaft, in der die gleichen Geschichten seit Jahren erweitert und erneuert, von vorn erzählt und von vorne bis hinten maximal ausgeschlachtet werden, eine weitere Vorgeschichte zum bereits Bekannten?
Das Universum der Superhelden von Marvel, dem man kaum mehr folgen kann, wenn man nicht mindestens die dazugehörigen Serienableger gesehen hat, dient derzeit als mahnendes Beispiel für Übersättigung. Der neue Kinofilm «The Marvels» erhielt durchwachsene Kritiken und fuhr zum Start das bisher schlechteste Einspielergebnis eines Marvel-Films ein. Eine Zeitenwende?
Womöglich reicht dem Publikum bombastisches Entertainment aus bunten Computerbildern und mit diversem Cast als progressivem Aushängeschildchen nicht mehr. Vielleicht muss schlicht wieder mitreissend erzählt werden, klüger, zeitgemässer. So wie in «The Hunger Games: The Ballad of Songbirds and Snakes», einer grossen positiven Überraschung dieses Kinojahres.
Der Film mit dem umständlichen Titel spielt rund 60 Jahre vor den Geschehnissen der ersten vier Teile (von denen drei ebenfalls von Regisseur Francis Lawrence gedreht wurden). Die Welt von Panem erholt sich langsam von dem Bürgerkrieg zwischen der reichen Hauptstadt, in der erste Wolkenkratzer wachsen, dem Kapitol, und den äusseren Distrikten, die umso ärmer dran sind, je höher ihre Nummer ist.
Die jährlichen «Hunger Games», die das Kapitol den Kriegsverlierern aufoktroyiert hat, stecken tatsächlich in den Kinderschuhen. Noch sind die Kämpfe auf Leben und Tod zwischen den Tributen aus den Distrikten kein perfekt inszeniertes Medienspektakel, sondern ein schleppendes Racheritual. Die grausame Spielleiterin Dr. Volumnia Gaul (Viola Davis) im blut-umsäumten Kleid geht für ihre Quoten über Leichen; moderiert wird das Gladiatorenspektakel vom billigen Taschenspieler Lucretius Flickerman (Jason Schwartzman), der nebenbei das Wetter ansagt.
Besonders gelungen ist das retro-futuristische Setdesign des Films. Statt glatter, grauer Bunker und generischer Luftschiffe herrscht ein asynchrones, doch stimmiges Durcheinander aus 40er-Jahre-Technik und Drohnen mit Gesichtserkennung. Es ist sichtlich eine Welt im Aufbau und in ihr möchte ein junger, ehrgeiziger Mann, Sohn eines gefallenen Generals, reüssieren und das verlorene Familienvermögen wiederherstellen: Coriolanus Snow (Tom Blyth), der spätere Präsident von Panem.
Für ihn und seine Kommilitonen wartet vor der Zulassung zur Universität eine unliebsame Überraschung: Sie müssen sich als Mentoren für die Tribute verdingen. Ausgerechnet dem Emporkömmling Snow (Familienmotto: «Snow lands on top», «Schnee landet immer obenauf») wird vom verbitterten Dekan Highbottom (Peter Dinklage) das vermeintlich schlechteste Los zugeschanzt – eine junge Frau aus dem allerärmsten Distrikt 12. Doch Lucy Gray Baird (Rachel Zegler) singt nicht nur wunderbar das Fans bekannte Lied «The Hanging Tree», sondern weiss sich auch mit (und gegen) Schlangen zu behaupten.
Jennifer Lawrence wurde mit ihrer Rolle als Katniss Everdeen zum Superstar in Hollywood. Nun betritt die nächste Generation die Bühne, mit Bravour. Newcomer Blyth und Zegler (Maria in Steven Spielbergs «West Side Story») verkörpern mit unverbrauchter Frische das Paar, das erst überleben muss und sich dabei lieben lernt. Doch der Fokus liegt klar auf Coriolanus und seinen Lehrjahren der Herzensverschliessung.
Zum Glück ist «The Ballad of Songbirds and Snakes» mehr «Batman Begins» als «Star Wars: Episode I». Das Prequel ist in drei Akte unterteilt, nur einer behandelt die actionreichen «Hunger Games». Der Rest der am Ende zu langen 157 Minuten ist eine Charakterstudie über den Aufstieg eines Mannes, der das Gute will, aber das Böse schafft – und zum Diktator wird.
Manches wirkt etwas konstruiert, etwa wenn Coriolanus selbst in den Ring steigen muss, um seinen besten Freund rauszuholen. Doch das sind verzeihbare, fast theatral anmutende Momente in einem Film, der seine Figuren ernst und sein Thema noch ernster nimmt. Die Perspektive des späteren Antagonisten ist erzählerisch reizvoll. Und gegenwärtig. Wir wissen natürlich, dieses Märchen wird nicht gut ausgehen, es ist nicht die Zeit für Revolutionen von Unten. Das macht den Film desillusionierender, reifer, eine Dystopie für Erwachsene.
Warum es die «Hunger Games» überhaupt gäbe, fragt die Spielleiterin. Erst am Schluss kennt Coriolanus die Antwort: Weil die ganze Welt eine Arena ist, die uns zeigt, wer wir wirklich sind.
«The Hunger Games: The Ballad of Songbirds and Snakes»: Ab 16. November im Kino.
Und jetzt könnt ihr blitzen so viel ihr wollt!