Als sie sich kennenlernen, ist Roy Horn 15 und Siegfried Fischbacher 20 Jahre alt. Sie begegnen sich auf der Bremen, einem Kreuzfahrtschiff, was damals, 1960, noch ein Luxus sondergleichen ist. Der blonde Siegfried ist tagsüber Stewart, abends zieht er zum Entzücken der Gäste flauschige weisse Häschen aus Hüten. Der dunkelhaarige Roy jobbt als Page. Und wird Siegfrieds Zauberassistent. Doch die Häschen beeindrucken ihn nicht. Denn Roy liebt grössere Tiere. Als Kind besass er einen riesigen schwarzen Wolfshund, der ihn vor den Schlägen seines Vaters beschützte. Der Vater war ein traumatisierter Kriegsheimkehrer und Alkoholiker. Der Hund hiess Hexe. Ihr Zauber wirkte.
Hexe war der Grund, wieso Roy bis zuletzt Tieren gegenüber ein bedingungsloses Vertrauen hatte. Auch gegenüber Mantecore, dem weissen Tiger, der Roy Horn am 3. Oktober 2003 beinahe tot beisst. Aber eben nur beinahe.
Siegfried und Roy sind sich sicher, dass Mantecore – was soviel wie «Menschenfresser» heisst– Roy beschützen wollte, weil diesem während der Show schwindlig wurde. Dass er ihn innert Sekunden getötet hätte, wenn Töten seine Absicht gewesen wäre. Dass er Roy bloss im Nacken zu packen versuchte, wie Katzen dies mit ihren Jungen tun. Als Mantecore 2014 stirbt, schreibt Roy auf seiner Facebookseite: «Ich fühle mich, als ob ein Teil von mir gegangen wäre.»
Auch Siegfrieds Vater ist ein kaputter Kriegsheimkehrer und Alkoholiker, doch statt bei den Tieren sucht Siegfried Zuflucht in der Magie. Fährt als Bub mit dem Rad aus dem zerbombten Rosenheim ins 60 Kilometer entfernte München, um sich Bücher mit Zaubertricks zu ergattern. Und schafft es endlich, die Aufmerksamkeit seines Vaters mit einem seiner Tricks zu fesseln. Es ist das erste Mal, dass der Vater sein Kind lobt.
Auf der Bremen – die wie Siegfried Jahrgang 1939 hat – fragt ihn Roy nach ein paar Monaten: «Denkst du, du könntest einen Geparden verschwinden lassen?» Roy hat nämlich vom Bremer Zoo den Geparden Chico als Haustier erhalten. Jedenfalls wird das so umstandslos im Podcast «Wild Things: Siegfried & Roy» des Journalisten und Regisseurs Steven Leckart (der keinen Emmy gewonnen hat, wie Spotify behauptet, sondern bloss für einen nominiert war) erzählt.
Die Stadt Bremen hatte zu jener Zeit allerdings noch gar keinen Zoo. Doch Roys Onkel ist mit dabei, als 1961 der indische Grosstierhändler George Munro beginnt, in Bremen einen Tierpark mit angegliedertem Tierhandel zu planen.
Was heute undenkbar wäre, wird für Siegfried und Roy zum Abenteuer mit erfolgreichem Ausgang: Sie schmuggeln Chico aufs Schiff – und lassen ihn vor dem völlig verblüfften Publikum erscheinen und wieder verschwinden. Der Kapitän entlässt die beiden zwar, doch es hagelt Einladungen: nach Monte Carlo ans jährliche Zirkusfestival. Nach Paris. Nach Las Vegas. Alles mit und dank Chico.
Es folgt der Aufbau eines Unterhaltungsimperiums. Die beiden deutschen Perfektionisten und ihre wachsende Raubkatzenschar erobern Amerika. Als Mantecores Biss ihrem Arbeitsleben ein unerwartetes Ende setzt, haben die beiden in 44 Jahren 30'000 Shows für 50 Millionen Menschen absolviert und eine Milliarde Dollar in Ticket-Einnahmen generiert. Allein für sie wird im 620-Millionen-Dollar Megaresort Mirage ein Theater gebaut. Sie machen das als Sin City verschriene, weitgehend von Mobstern regierte Las Vegas, das für Geld, Macht und Sex steht, mit ihrer Riesenbüsi-Show als erste auch familientauglich.
Erwerb und Haltung der Tiere sind Tierschützern bald ein Dorn im Auge. Siegfried und Roy trennen wenige Tage alte Tigerbabys von ihren Müttern, um sie selbst von Hand aufzuziehen. Bis sie ein Jahr alt sind, dürfen die kleinen Tiger in ihrem Bett übernachten. Täglich werden sie zwischen dem Mirage und dem Jungle Palace getauften Anwesen der beiden hin und her transportiert. Oder zu Shows nach New York, Südamerika und Japan verfrachtet.
Siegfried ist der Harte, der die Tiere abrichtet, Roy der Emotionale, der ihnen Nestwärme vermittelt und der einen Teil des Parks von Jungle Palace dem Himalaya-Gebirge, der Heimat der weissen Tiger also, nachdesignt hat. Jungle Palace ist genau so sehr ihr eskapistischer «happy place» wie später die Neverland Ranch für ihren Freund Michael Jackson. Die drei sind Männer ohne richtige Kindheiten. Ihr Mangel führt sie in die Rekonstruktion kindlicher Welten. Mit Tieren. Oder Kindern. Doch auch in diesen neuen Welten gibt es Leidtragende.
Überhaupt pflegen Siegfried und Roy ein Dasein im Design. Ihres ist überbordend, kitschig, glitzrig, voller Reisesouvernirs und Sentimentalitäten. Sie sind Illusionisten bis ins kleinste Detail. Ihr Privatleben verhüllen sie mit immer neuen, spektakulären Selbstdarstellungen. Dabei weiss ganz Las Vegas, dass die beiden (bis 1998) ein Paar sind. Sie gelten als die offensichtlichst ungeouteten Schwulen der Welt. Aber sich zu outen wäre für Prominente in Amerika das Karriereende. In den 60ern, 70ern, 80ern und weit in die 90er hinein.
Als die beiden 1967 nach Amerika kommen, haben gerade 40 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner eine TV-Reportage mit dem Titel «The Homosexuals» geschaut, die Homosexualität als Geisteskrankheit abstempelt. Ab den 80ern gelten Schwule als Seuchenträger. Noch im Jahr 2004 behauptet ein Irrer, der einen Anschlag auf die Villa der beiden verübt, Siegfried und Roy würden nicht nur miteinander, sondern auch mit ihren Tieren schlafen und hätten so den HI-Virus und damit Aids in die Welt gebracht.
Als 1992 ihre autorisierte Doppelbiografie erscheint, spielt Liebe darin keine Rolle. Getrennt hat sie schliesslich Siegfrieds Tablettensucht, Freunde blieben sie trotzdem bis zuletzt.
In der dritten Folge von «Wild Things» beleuchtet Leckart dieses Paradox: Dass zwei schwule Männer auf der Bühne zur Publikumsbelustigung zwar eine offensiv queere Ästhetik ausleben durften, privat aber eine Fassade der asexuellen, schon fast klinischen Sauberkeit aufrecht erhalten mussten.
Sonst hat «Wild Things», der vom «Guardian» frenetisch und von der «Zeit» total enttäuscht begrüsste Podcast, allerdings ein arges Zeitgeist-Problem: Anstatt die schier unglaubliche Geschichte seiner Protagonisten, die es aus dem deutschen Nachkriegsschutt auf den Thron im surrealen Himmel über Las Vegas geschafft haben, gut recherchiert und dramaturgisch packend zu erzählen, ist all dies nur Beigabe.
Denn vor allem will Leckart ein True-Crime-Event aus Mantecores Biss machen. Immer wieder verspricht er in sensationalistisch aufgebauschten Loops «die wahre Geschichte» hinter dem Umfall, der von Siegfried und Roy gar nie weiter hinterfragt wurde, will wissen, ob der Tiger durch Tierschützer im Publikum zum Zubeissen provoziert wurde oder ob hinter der Bühne etwas manipuliert wurde. Eine geheimnisvolle Dame mit einer Bienenstock-Frisur wird plötzlich wichtig, und alles verheddert sich in verschwörungstheoretischen Klatschjournalismus.
Man muss sich für die Perlen dieser grossen Showbiz-Saga schon durch etlichen an den Haaren herbeigezogenen Mist hören, und der Dokfilm «Siegfried und Roy – Zwei deutsche Legenden», den das ZDF letztes Jahr gedreht und noch bis 2026 in seiner Mediathek anbietet, tut es dann auch. Zumal eine Geschichte, die derart bildstark und von der Illusion einer verzauberbaren Welt lebt, auf der reinen Podcast-Ebene nur verlieren kann. Und der europäische Blick auf die beiden interessiert Leckart ebenfalls nicht. Dabei ist Siegfrieds Schwester, eine Ordensfrau namens Dolore, die öfter nach Las Vegas gereist ist, eine köstliche Kommentatorin von «dieser Zauberei da».
Sie hätte Leckart noch befragen können. Seine beiden Protagonisten nicht mehr. 2020 erliegt der dauerhaft geschwächte Roy einer Covid-Infektion. Acht Monate später folgt ihm der an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte Siegfried. Gegen Krankheit und Tod kannten selbst sie keinen Zauber.
«Wild Things: Siegfried & Roy» läuft zum Beispiel auf Spotify oder Apple Podcasts. Zum ZDF-Dokfilm geht es hier.