Er sagt: «Ich will.» Sie sagt: «Ich kann nicht.» Er ist jünger als sie, aber ihre Freundinnen sagten, das mache nun wirklich nichts, sie solle sich nur ein Beispiel an Heidi Klum nehmen. Das leuchtete ihr ein. Bis sie vor dem Altar steht. Da geht's irgendwie nicht mehr. Aber irgendwas war eh komisch zwischen ihr und ihm. Ihr war nämlich am wohlsten, wenn sie beim Reden eine Wand zwischen sich hatten und einander nicht sahen. Denn genau so hatten sie einander kennengelernt. Aber vielleicht brauchte sie die Wand auch, weil sie ursprünglich einen anderen wollte.
Dieser andere konnte sich seinerseits lange nicht zwischen drei Frauen entscheiden. Doch dann entschloss er sich, und weil er ein etwas simples Gemüt ist, hinterfragte er diesen Entschluss auch nicht mehr gefühlte 2814 Mal, sondern stand einfach dazu. Auch, als ihm die Erwählte gestand, dass sie nicht gerade wenig Schulden gemacht habe in ihrem jungen Leben. Er findet sie schlicht «a smoking hot piece of sexyness», an dem er gerne festhält. Beide sagen: «Ja, ich will.»
Die beschriebenen Paare sind zwei von fünf, die im Finale von «Love Is Blind» vor dem Altar stehen. Ein weiteres Paar stand kurz davor, aber dann gestand der Typ seiner Verlobten, dass er vor ihr nicht nur mit Frauen, sondern auch mit Männern geschlafen habe. Danach musste sie erst einmal lange beten, nachdenken und einsam auf Pools starren. Dann trennte sie sich.
In «The Circle» durften Kandidatinnen und Kandidaten nur via Textnachricht kommunizieren. Ohne einander zu sehen. In «Love Is Blind» dürfen 15 Männer und 15 Frauen erst ein paar Tage lang nur miteinander reden. Ohne einander dabei zu sehen. Das Ziel: Zu beweisen, dass es in der Liebe absolut NULL auf Äusserlichkeiten ankommt. Also nicht auf Alter, Rasse, Klasse, Aussehen.
Die Teilnehmenden sollen sich nur aufgrund guter Gespräche so sehr verlieben, dass sie sich blind einen Heiratsantrag machen. Erst dann dürfen sie sich sehen. Drei Wochen später sollen sie heiraten. Die Ehe, das macht «Love Is Blind» ganz deutlich klar, ist schon das Ziel von so einem – astrein heterosexuellen – Lebensplan. Beruflich sind alle Teilnehmenden auf einem ganz okayen Mittelklasse-Weg. Und altersmässig alle in ihren 20ern oder 30ern. Ihre körperliche Verfassung ist makellos. Von wegen Äusserlichkeiten zählen nicht. Was für eine grosse dreiste Lüge. Und was sagt Netflix dazu? Zufall! Ganz zufälligerweise sahen alle Paare, die sich fanden, einfach richtig gut aus, ungelogen!
Verrückt und etwas traurig ist auch, wie wenig die Menschen offenbar miteinander reden, wie bedürftig sie nach einer analogen Gesprächssituation sind. Danach, tagelang über nichts anderes als Gefühle nachzudenken und zu reden. Auch die Männer. Die Seele will therapiert werden. Gut zwanzig Stunden habe man sich miteinander unterhalten, berichtete ein aus den Aufnahmen geschnittener Teilnehmer.
Beide befinden sich dabei in sogenannten «Pods», wabenförmigen Kokons mit einem Sofa und grob gestrickten Wolldecken. Dazwischen ist eine undurchsichtige Scheibe. Sie hören sich. Wie sie reden, lachen und sehr oft weinen. In den Pods gibt es keine Ablenkung, keine Smartphones, keine Musik, nichts. Logisch, dass man sich da aufeinander einlässt, sich öffnet, eine Vertrauensbasis schafft, dahinschmilzt.
Nach zwanzig Stunden sagen die Pod-Menschen Dinge wie: «Ich halte dich für immer, ich werde dir nie das Herz brechen.» (Als ob!) Oder: «Jetzt weiss ich, was eine wahre Beziehung ist.» (Abwarten.) Sie sagen: «Ich liebe dich.» Oder: «Es fühlt sich an, als sei er in einer Fabrik angefertigt worden. Als sei er speziell für mich zusammengesetzt worden.»
Der fabrikgelieferte Märchenprinz ist zufälligerweise Forscher im Bereich Artificial Intelligence. Er betrachtet das alles zuerst wissenschaftlich, analytisch, neugierig. Und hat dann den grössten emotionalen Zusammenbruch, weint von allen am häufigsten, derart schockhaft ist für ihn die Konfrontation mit der Empathiefähigkeit seines Gegenübers. Falling in love with a stranger. Und was löst das bei uns aus? Gefühle natürlich. Man will, dass es die beiden schaffen, unbedingt! Und: Das sei hier erleichtert gespoilert: Ja, sie schaffen es, nicht nur, bis zum Ende der Dreharbeiten vor einem Jahr, sondern bis heute.
Denn jetzt wird «Love Is Blind» richtig teuer. Mündet ein in eine Mischung aus allen möglichen Dating- und Wedding-Shows: «Hochzeit auf den ersten Blick», «Bachelor», «Zwischen Tüll und Tränen». Da wird alles aufgefahren, was wir kennen: ein mexikanisches Luxusressort, Strände, Helikopter, Hochzeitskleider, und alles natürlich in diesem unverwechselbaren Look als hätten Apple und Ikea kopuliert und lauter sterile Hotelzimmer, Wohnungen und Hochzeitsvillen geboren.
«Love Is Blind» ist zu hundert Prozent hetero, zu hundert Prozent konservativ in seiner Idee, dass Männer in Anzügen und Frauen in Weiss für immer zusammenfinden müssen. Ist hundert Prozent Amerika und Disney und eine weitere Märchenfabrik-Kantine, wo Liebe als Instant-Getränk serviert wird. Alles ist machbar. Vieles ist Fake. Aber wie der Artificial-Intelligence-Mann und seine Frau in all dem irgendwie wahrhaftig zusammenfinden und aus einer Versuchsanordnung Leben machen, das ist wirklich eine schöne Geschichte.
Am 5. März zeigt Netflix die «Was danach geschah»-Folge zur ersten Staffel «Love Is Blind».