Wer von euch schaut schon «The Circle»? Dutzende? Hunderte? Tausende? Wie geht es euch dabei? Vor allem: Wie geht es eurem Kopf? Fühlt ihr euch auch so totgeschossen? Kriegt ihr auch Schreikrämpfe, wenn wieder irgendwer quietscht: «This. Is! So!! Awesome!!!» Wenn Miranda «Awwwww!» macht, als wäre sie eine esoterische Katze in «Cats»? Wenn Joe so tut, als wäre er beim Casting für Scorseses nächsten Mafia-Film? Wenn jemand «Wink emoji!» oder «Mind blowing emoji» sagt? Könnt ihr noch?
Ich brauche nach acht Folgen dringend eine Pause. Wahrscheinlich bis .... morgen. Aber für heute hab ich mal auf die zweite Staffel «Sex Education» umgeschaltet. Grossartig. Herzerwärmend. So lustig. So gut. Awwwww! Heart emoji!
Okay. Netflix ist verbrecherisch gut ins Jahr 2020 gestartet. «Sex Education» ist super, da wurde von einer zur nächsten Staffel nichts vergeigt, und «The Circle» ist die Droge. Ist wie Paprika-Chips essen. Nach einer halben Packung fühlt man sich schlecht, zu fett, zu salzig, aber gibt's ein Entkommen? Jein. Für ein paar Stunden. Oder Tage. Und dann läuft einem beim blossen Gedanken daran auch bereits wieder das Wasser im Mund zusammen.
In der Stadt Salford wurden dafür von Channel 4 zehn Wohnungen in einem brandneuen Haus eingerichtet, sie wirken wie frisch aus dem schwedischen Möbelhaus, in jeder Wohnung befinden sich zehn Kameras und jede Menge Bildschirme. In jeder Wohnung wohnt zudem ein Mensch mit einem Profil. Also ein paar Fotos und einem Lebensmotto. Kontakt nach draussen gibt es keinen, nach drinnen auch nicht richtig. Wer sich ins Haus begibt, liefert sich im Idealfall einer dreiwöchigen Einzelhaft aus, so lange dauert der Dreh einer Staffel.
Kommuniziert wird via «Circle», einem allmächtigen Interface, das Aufgaben stellt (Rätsel lösen, Kuchen dekorieren), aber vor allem Nachrichten zwischen allen oder einzelnen transportiert. Geschriebene Nachrichten, die man mit Emojis dekorieren kann. Man spricht dem Circle eine Nachricht und ein Emoji («Smiley face!») vor, und dies erscheint auf einem der Bildschirme. Aufgrund der Profilbilder und Nachrichten bewertet man sich, wählt einzelne raus.
Salford ist für «The Circle», was das Dschungelcamp für «Ich bin ein Star ...» ist, ein Ort, wo alle Länder ihre Staffeln filmen können, bis jetzt sind das Grossbritannien und der Kontinent Netflix (also die USA), Frankreich und Brasilien kommen demnächst dazu. Netflix suggeriert, dass sich das Haus aus Salford mitten in einer amerikanischen Grossstadt befindet, einer fiktiven allerdings, Stadtansichten von Chicago und Milwaukee werden zu einer proto-amerikanischen Stadtlandschaft verschmolzen.
Der Ort des Netflix-«Circle» ist damit ein «Catfish». Eine Katze, die sich hinter der Maske eines Fischs versteckt. Auch im Haus leben solche Katzenfische. Bewohnerin Rebecca etwa ist in Wirklichkeit Rebeccas Boyfriend Seaburn. Und hinter den scharfen Fotos der bisexuellen Mercedeze versteckt sich die umfangreiche und ältere lesbische Karyn. «Don't judge a book by its cover!», sagt Karyn wieder und wieder, mal soll ein Buch nicht nach seinem Äusseren bewerten.
Aber wieso versteckt sie sich dann hinter Mercedeze? Die doch nichts als ein Cover ist? Und so geht es weiter: Hässliche Männer geben sich als schöne aus, dicke Frauen als dünne, Mütter als Söhne, Instagram im Overdrive. Alle verdächtigen alle, und die kontrollierte Kommunikation verkommt nach kürzester Zeit zu nichts als einem Strategiespiel, bei dem alle versuchen, die andern fernzusteuern. Man spielt sich gegenseitig Empathie und Solidarität vor, verbündet sich gegen Dritte, paktiert und intrigiert. Weiss genau, dass nichts wahr sein muss, und fällt doch immer wieder auf Funken von angeblicher Wahrhaftigkeit hinein.
Passieren tut ... nichts. Kein Sex, keine Gewalt, so dermassen gar nichts, dass man Kandidat Chris in kommunikationsfreien Momenten meist ausdruckslos in den Spiegel starren sieht, den er immer vor sich aufstellt. «Big Brother» ist dagegen ein Bordell im Ausnahmezustand. Klingt fürchterlich, oder? Ist es auch. Und hoch ansteckend. Wahrscheinlich war noch kein Reality-Format so dermassen aus real existierender Gegenwart geschnitzt.
Das Bildschirm-Ich entspricht dabei einem Traum, der Reality wird. Nicht Realität. Einige tragen Bilder von andern vor sich her als Schutzschilder im Kampf um einen reinen Beliebtheitspreis. Den sie für unerreichbar halten, wenn sie sich denn als sich selbst zeigen würden. Denn natürlich winkt am Ende Geld. 100'000 Dollar. Verliehen von den lieben Hausbewohnern.
«The Circle» ist genau jetzt. Der Mensch an der Schnittstelle von Ikea-Wohnung und Internet-Vision und im Hintergrund läuft die Endlosschlaufe einer spiegelverkehrten britischen Land- oder Lindenstrasse. «The Circle» ist vielleicht ... wir. Exploding head emoji.