Wenn das Tuch richtig gefaltet ist, lässt sich eine Kalaschnikow darunter verstecken. Von aussen sieht es dann aus, als würde seine Trägerin eine Hand in die Hüfte stützen. Das Tuch heisst Haïk, ist 6 mal 2,2 Meter gross und schneeweiss, das ist den Algerierinnen wichtig.
Denn obwohl der Haïk vieles verhüllt, auch wenn es Frauen gibt, die ihn mit dem Mund statt mit einer Schnalle schliessen, weil die Frau an sich nicht sprechen soll, so ist es doch nicht das schwarze Tuch der radikalen Islamistinnen. Unter dem Haïk transportierten die Algerierinnen während des Algerischen Befreiungskriegs gegen die Franzosen Waffen für die eigenen Männer.
Die algerische Regisseurin Mounia Meddour hat einen klugen, vor Leben und junger Wut nur so platzenden Film über Mode und Widerstand gemacht, er heisst «Papicha», und da spielt nun eben dieses weisse Stück Stoff eine prominente Rolle. Es ist das Material, mit dem die 18-Jährige Nedjma versucht, das traumatische Jahrzehnt der 1990-er Jahre während des algerischen Bürgerkriegs zu bewältigen. Ihm einen Funken Freiheit im Würgegriff religiös motivierter Restriktionen und Anschläge zu entlocken.
Nedjma will Modedesignerin werden. Sie näht für sich und ihre Freundinnen Kleider aus bunten, glänzenden Stoffen, sie verkauft sie in der Toilette eines Clubs, wir begegnen ihr in einem Wimmelbild aus Kaugummiblasen, Glitzer, Zigaretten, Pailetten und Lidschattenpaletten. Es sind die 90er, wie wir sie durchaus auch kannten, die Mädchen rasen von Party zu Party, sind scheinbar unbeschwerte Nachtlichtgeschöpfe. Wenn da nicht schwer bewaffnete Strassenkontrollen wären. Und eine Mauer rund um das studentische Wohnheim der Mädchen mit einem Portier, der sie nur gegen Geld ein- und auslässt.
In der Stadt mehren sich Plakate, die verlangen, dass Frauen nur noch im Hijab auf die Strasse dürfen. Islamistinnen stören eine Vorlesung – und erschiessen Nedjmas Schwester. Überhaupt sind die radikalisierten Frauen genauso brutal wie die Männer und befördern die Unterwerfung des eigenen Geschlechts. Damit die Zähmung der Widerständigen noch etwas gründlicher vor sich geht, werden auch noch Lebensmittel mit Kaliumbromid vergiftet, einem Sedativ, das auch gleich die Lust auf Sex reduziert.
Dies ist der Moment, da wir uns vollends im Setting der Serie «The Handmaid's Tale» glauben. Inmitten einer frauen- und fortschrittsfeindlichen Dystopie. Dabei erzählt Mounia Meddour «Papicha» entlang ihrer eigenen Jugendjahre in Algerien vor der Flucht nach Frankreich. Nur die Mauer um das Wohnheim ist reine Fiktion. Der entsetzliche Rest, die Bomben, die Abertausenden von Toten, die Exekutionen im eigenen Zuhause, die Jungs, die davon träumen, ihre künftige Frau wie ein Möbel wegzusperren, sind wahr.
Nedjmas Freundinnen wollen weg, nach Frankreich, Kanada oder Usbekistan, selbst dort sei es besser, sagen sie. Nedjma will bleiben. Doch die ungenannte Stadt, in der sie lebt, wird immer klaustrophobischer, immer gewalttätiger, der letzte Hauch von Vergnügen wird ausgemerzt, es gibt nur noch Rückzug in kleine geschützte Räume, in den Hammam, in eine Kammer, wo sie und ihre Freundinnen eine Modeschau vorbereiten. Und unter den Schutz des Haïk, jenes Tuchs, in dem Nedjmas Schwester erschossen wurde. Das mit ihrem Blut getränkt war. Und jetzt der Anlass für Nedjmas kreative Befreiung ist.
«Papicha» ist ein dynamischer, leidenschaftlicher, glühender Film. Er lief letztes Jahr, als es noch normale Filmfestivals gab, in Cannes, wurde von Algerien für die Oscars eingereicht und gewann zwei Césars für den besten Debütfilm und die beste Nachwuchsdarstellerin. Und es ist die milde Ironie des Corona-Jahres, dass Filme wie «Papicha», die normalerweise im Schatten der Hollywoodsupertanker verdämmern, gerade jetzt, wo so viele grosse Filmstarts verschoben werden oder ihre Produktion stagniert, an Strahlkraft und Kinopräsenz gewinnen.
Und man wünscht sich dringend, dass sich Heidi Klum und alle, die «Germany's Next Topmodel» idolisieren, diesen Film anschauen. Um mal eine Ahnung davon zu bekommen, dass es Orte gab und gibt, wo Mode über Leben und Tod entscheidet, und dass man über Mode wirklich existentielle Geschichten erzählen kann. Rebellische. Politische. Befreiende. Wichtige. Nicht nichtige.
«Papicha» läuft ab dem 10. September u.a. in den Kinos RiffRaff (Zürich), kult.kino atelier (Basel), CineMovie (Bern), Rex (Biel), Cameo (Winterthur), Bourbaki (Luzern).
Ich kenne nur die Show, welche ja nichts mit diesem Film zu tun hat.
Dieser Seitenhieb auf Heidi kommt mir vor wie meine Eltern, wenn sie sagten "iss alles auf, andere Kinder haben nichts zu essen".