In Kleinhüningen endet vieles. Basel, die Schweiz, der Wohlstand. Selbst der Rhein hat genug. Ab Kleinhüningen fliesst er durch Frankreich und Deutschland. In Kleinhüningen gibt es dafür den Hafen und jede Beiz hat etwas damit zu tun: Das Restaurant Schiff, Bürgins Fischerhaus, der Rostige Anker, nur das Sahara fällt aus der Reihe.
Orte wie Kleinhüningen gibt es auch in Frankreich, Deutschland, Belgien oder Amerika. Früher war hier ein kleines Fischerdörfchen. Heute ist es ein bisschen hässlich, ein bisschen depro, aber gut. Welthaltig eben. Und in Kleinhüningen fangen gute Geschichten an. Die von Agotha. Und die von Meryl.
Es sei ihr schwer gefallen, Agotha loszulassen, sagt Meryl Marty, sie sei «schrecklich traurig» gewesen, sie habe die 18-Jährige jetzt doch lange Zeit und gern begleitet. Agotha, das streetsmarte, toughe Kid aus Kleinhüningen, Tierwärterin im Basler Zoo und Tochter einer Prostituierten, die verschwunden ist. Wurde sie zum Opfer des Dornröschenkillers?
Auch Meryl kommt aus Kleinhüningen, früher, sagt sie, sei sie ein ungemein schüchternes Kind gewesen, habe kaum geredet, nach der Schule sei sie nach Hause gerannt, habe sich auf den Boden gelegt und in Fantasiewelten geflüchtet. Sie war in einem Chor, und als sie das erste Mal in einem Singspiel mitmachen und auf einer Bühne stehen durfte, erlebte sie die Befreiung, die es bedeutet, in eine andere Figur abzutauchen. Die Euphorie, Menschen zu unterhalten, ohne sich ihnen auszuliefern. Die beglückende Flucht in die Verkleidung.
Mit elf sah sie Harry Potter und es war um sie geschehen. Sie wollte Schauspielerin werden. Damals war es auch, als sie ihrem Vorbild für Agotha begegnete: «Eines Tages umringten mich ein paar Männer, schmissen eine glühende Zigarette zu Boden und befahlen mir, sie aufzuheben. Da kam sie, sagte "verpisst euch" und hat mich ganz einfach rausgeboxt.»
«Sie» war ein anderes Mädchen, eine Coole, die Meryl sehr bewunderte. Natürlich getraute Meryl sich damals nicht, mit ihr zu reden, aber falls sie das hier zufälligerweise lesen sollte, dann darf sie sich enorm viel auf ihre einstige Rettungsaktion einbilden, Agotha ist grossartig, eine Mischung aus Arya aus «Game of Thrones» und einer Teenie-Lara-Croft. Dark, zart, stark. Zur Rache entschlossen.
Meryl Marty ist in allem – Look, Sprache, Körperlichkeit – derart authentisch, dass man sich grandios in ihrem Alter täuscht: Ist diese Schauspielerin jetzt 16 oder 18? Höchstens 22! «Nein, 32», lacht sie im Zoom-Talk, «der Regisseur war begeistert, dass ich während des Drehs echte Pickel hatte.»
Zwischen der Szene mit der Zigarette und Agotha liegen gut zwanzig Jahre, ein Abschluss in Sozialer Arbeit, dann die Schauspielschule und endlich der Versuch, als Schauspielerin zu überleben. In Berlin. «Schon in der Schauspielschule sagte man uns, dass wir nach Deutschland gehen sollen, dass wir da bessere Chancen für einen Einstieg hätten.» Denn der Schweizer Markt ist klein. Und für Meryl Marty mit ihrem philippinischen Hintergrund war er noch kleiner.
«In der Schweiz sagte man mir, dass ich es nie über ein Typecasting hinausbringen würde, dass mir ernsthafte dramatische Rollen verschlossen bleiben werden, dass ich nehmen solle, was ich kriege, und erfüllen solle, was mir da abverlangt wird.» Welches Typecasting? «Exotisch, jung, dynamisch, dreissig. Normalerweise werde ich gerne als Influencerin oder die Hinterlistige, die ein Drama kreiert, besetzt. Es hiess, du wirst nie was Ernsthaftes spielen. Agotha war genau die Rolle, auf die ich jahrelang hingelebt habe. Das ganz Andere.»
Empfindet sie die deutschsprachige Filmszene als rassistisch? «Nein, nur als mühsam. Immer muss man mein Aussehen erklären. Wie oft habe ich in der Schweiz gehört, dass es zu schwierig wäre, Eltern für meine Figur zu finden. Und ich dachte, ey, schaut euch doch einfach mal um, draussen, auf der Strasse, da findet ihr so viele unterschiedliche, individuelle Menschen!» Zum Beispiel in Kleinhüningen. Irgendwann sagte sie sich, dass Überzeugungsarbeit Zeitverschwendung ist und wanderte nach Berlin aus.
Doch auch dort öffneten sich erst keine Türen, Meryl jobbte in Callcentern und ging zu Castings, dachte öfter ans Aufhören, doch immer, wenn sie knapp davor war, öffnete sich dieses kleine Türchen, das sie zum Weitermachen anspornte. Und ausgerechnet während der Pandemie, als die meisten nichts zu tun hatten, erhielt sie ihre erste grosse Rolle in Deutschland in der Streaming-Serie «Sunny – Wer bist du wirklich?», es folgte die RTL-Daily-Soap «Alles was zählt».
Und jetzt also «Die Beschatter» mit Agotha. Das grosse neue Schweizer Serien-Event unter der Regie von Michael Steiner. Über eine Detektivschule in Basel unter der Leitung von Roeland Wiesnekker als Detektiv Leo Brand. Man sieht es schon im Titel, dass sich «Die Beschatter» vor «Der Bestatter» verbeugen, dem ungeheuren, jahrelangen Erfolgsvehikel mit Mike Müller.
Auch «Die Beschatter» sind wie der Vorgänger zu einem guten Teil komisch, das ist kein Neo-Nordic-Noir à la «Wilder». Aber weit weniger gemütlich als «Der Bestatter». Wie auch, wenn im Soundtrack schon in der ersten Folge «Prada» von Knöppel läuft?
Michael Steiner versteht Basel, was für einen Zürcher ungewöhnlich ist (und was er auch dem Drehbuch von Simone Schmid verdankt, die in der Region Basel aufgewachsen ist), er lässt das Gepützelte der Stadt liegen und holt ihre lichtloseren Seiten hervor, die Industrieareale, das Milieu, das unglamouröse Trainingsgelände des FCB, eine Bar, die aussieht, als läge sie unter dem Heuwaage-Viadukt, und die Rückseite des Zoos.
Agotha arbeitet im Zoo, im Elefantengehege, und weil Meryl Marty wollte, dass sich die Elefanten an sie gewöhnen, hat sie vor dem Dreh eine Weile bei ihnen gearbeitet. «Endlich wusste ich, wie Agotha riecht. Ich sass im Zug nach Rheinfelden und hatte plötzlich ganz viel Platz.» Vielleicht versucht Leo Brand auch deshalb so heftig, Agotha, die ihren Kurs an der Detektivschule nicht bezahlen kann, erst loszuwerden, bis er sich um das Verschwinden ihrer Mutter kümmert.
Wie einst Mike Müller spielt auch Roeland Wiesnekker einen Ex-Cop in einem neuen Job und kann das Ermitteln nicht lassen. Damit geht ein lang gehegter, nationaler Wunsch in Erfüllung. Endlich gibt es Wiesnekker in einer Schweizer Serien-Hauptrolle (wieso nicht im «Tatort»???). Wobei es gar keine so klare Haupthauptrolle ist neben Meryl Marty. Die beiden wachsen zu einem Ermittler- und einem Ersatzfamilien-Gespann wider Willen zusammen, ihr Trotz bringt seine Mauer zum Brechen.
Und dann sind da noch die anderen Auszubildenden der Detektei Brand, die reiche Doro Iselin aus dem Basler Daig, die ihren Mann beschatten will, FCB-Fan Milan (Dardan Sadik), der immer als Boxsack für andere herhalten muss, der deutsche Henning Eckberg (Martin Butzke), der so gerne Sherlock Holmes wäre, und Roger Hasenfratz (doofer Name, aber Martin Rapold ist super), der es genau auf Frauen wie Doro abgesehen hat.
Agothas Kampf um ihre Mutter ist der Hauptstrang dieser Staffel und in all seinen Verästelungen rasant, brutal und herzzerreissend, flankiert wird er vom organischen Zusammenwachsen des ganzen Teams. Die Einzelfälle, die Folge für Folge gelöst werden, gleiten gelegentlich ins Karikaturhafte ab (Stichwort Kunstszene, Stichwort Influencer), aber die Besetzungen sind immer dermassen on point, dass man auch ihnen gerne zusieht.
Meryl Marty hofft, dass die schrecklich traurige Zeit ohne Agotha bald vorbei ist und sie einander wieder begegnen, sie hat es noch nicht geschafft, Agotha aus sich zu verabschieden und sie ziehen zu lassen. Doch dazu müssen «Die Beschatter» am kommenden Sonntag erst einmal losgehen. Und wenn das Publikum die Serie genauso liebt wie das Ensemble, das dahintersteckt, muss SRF die Zusage für die zweite Staffel geben. Woran eigentlich kein Zweifel besteht. Der Cliffhanger am Ende der ersten Staffel ist für ein einmaliges Gastspiel viel zu fies.
Die sechs Folgen von «Die Beschatter» sind an folgenden Terminen jeweils um 20.05 Uhr auf SRF 1 zu sehen:
Folge 1 & 2: So, 30.10.
Folge 3: Di, 1.11.
Folge 4: Di, 8.11.
Folge 5: Di, 15.11.
Folge 6, Do, 17.11.