Die Netflix-Kultur «ist wie Bulimie»: zwei Serienmacher erzählen
Der Mann ist Raucher, Melancholiker und süchtig «nach der depressiven Seite des Lebens». Therapie ist sein Thema. Und Betrug. Der Mann heisst Hagai Levi, kommt aus Israel und ist einer der erfolgreichsten Serienmacher der Welt, auch wenn er das bestreitet.
Hagai Levi hat 2005 «Be Tipul» erfunden, eine Serie über therapiebedürftige Leute. HBO fragte ihn, ob er das Gleiche nicht auch für Amerika machen könne, und Levis amerikanische Therapeuten-Saga «In Treatment» brachte es auf 130 Folgen. Viele weitere Länder folgten mit eigenen Adaptionen, jede war anders, die russische Therapeutin etwa behandelte ausschliesslich Familienmitglieder und enge Freunde, was der Logik jeder Psychotherapie widerspricht. Als Levi bei den russischen Autoren nachfragte, sagten sie, dass kein Mensch in Russland seine grössten Geheimnisse völlig Fremden anvertrauen würde, das wäre viel zu gefährlich.
Er selbst, sagt Levi, befände sich schon sein ganzes Leben lang in Therapien. Und er ist zum Schluss gekommen, dass Therapien und Analysen wesentlich zur Steigerung von Narzissmus beitragen. Für unsere Gesellschaft ist das natürlich eine verheerende Erkenntnis. Für Fiktionen nicht. Da ist jede Neurose ein willkommenes Unterhaltungselement.
Levi erlebte bei HBO noch das Ende jenes Jahrzehnts, dass er als Goldenes Serienzeitalter bezeichnet, der Nullerjahre nämlich. Jene Zeit, als Serien selbst etwas Therapeutisches hatten, «weil sie unseren Alltag gliederten, uns kathartische Erfahrungen erlaubten und wir dabei viel über uns selbst lernten.» Und heute? «Heute gibt es zu viel. Meine 13-Jährige Tochter hat im Hintergrund immer Netflix laufen. Sie kann eine gute nicht von einer schlechten Serie unterscheiden, sie schaut und schaut und schaut. Es ist wie Bulimie. Eine Sucht.» Und zudem rücksichtslos denen gegenüber, die Jahre ihres Lebens in die Arbeit an einer Serie investieren.
Was ist seine Reaktion? Das Rauchen hat er jedenfalls nicht aufgegeben. «Meine Arbeiten werden immer kürzer. Demnächst mache ich meinen ersten Spielfilm. Eine einzige Folge.» Was schaut er selbst? «‹Normal People› habe ich schön gefunden. Was ich nicht mehr ertrage, sind böse Menschen. Das HBO-Ding mit dem Vater zum Beispiel.» – «Das Ding mit dem Vater? ‹Succession›?» – «Genau, ‹Succession›, das sind Psychopathen ohne moralisches Dilemma, weil sie gar keine Moral haben. Wie in ‹House of Cards›.»
Auf «In Treatment» folgte «The Affair» für Showtime – fünf Staffeln über Menschen, die sich gnadenlos betrügen. «Ich bin besessen von moralischen Konflikten. Und vom Kampf zwischen Moral und Begehren. Daher meine Leidenschaft für Betrug.» Und nun die HBO-Miniserie «Scenes from a Marriage» mit Jessica Chastain und Oscar Isaac – ein im Narzissmus verlorenes Paar, das sich jeden möglichen Schmerz zufügt, vielleicht die traurigste Serie der Welt, ganz sicher die deprimierendste.
Er sitzt neben mir vor einem Genfer Kino in der kalten Dämmerung, er muss ja rauchen, ein Mann hält ihm ein Foto mit Chastain und Isaac hin und will ein Autogramm. In zwei Stunden wird er sich am Geneva International Film Festival (GIFF) dem Publikum stellen, an jenem Festival also, das sich wie kein anderes in der Schweiz seit vielen Jahren den Serien widmet und schon George R.R. Martin zu Gast hatte, bevor bei uns irgendwer die Titelmelodie von «Game of Thrones» nachsummen konnte.
«Scenes from a Marriage» oder «Szenen einer Ehe» gab es schon einmal, 1973 als TV- Sechsteiler des Schweden Ingmar Bergman, die Scheidungsrate in Schweden schoss danach in die Höhe. Bei Bergman betrog der Mann die Frau, in Levis Remake ist es umgekehrt, Chastain spielt eine kühle Karrierefrau mit auffallend vielen Geschäftsreisen. Eine Rolle, sagt Levi, die man in Amerika so nicht möge, aber in Europa schon.
Bergmans «Szenen einer Ehe» sah er zum ersten Mal mit sechzehn: «Ich lebte in einem Kibbutz, ich war Jungfrau, ich wusste nichts über Beziehungen, Sex oder Kunst. Es gab einen Members Club und nur da konnten wir Filme schauen. Ich sass also alleine mit Bergman in diesem Club. Es war eine Erleuchtung. Alles, was ich seither getan oder erlebt habe, ist davon beeinflusst.» Als er selbst ein erfolgreicher Serienmacher wurde und mit «In Treatment» um die Welt reiste, erzählte er einmal in Schweden von seiner Liebe zu Bergman.
Ingmar Bergman also. Einer der Götterpaten des europäischen Arthouse-Kinos. Aber vielleicht auch einer der Wegbereiter des ganzen Scandi-Noir-Booms, der erst die Film- und dann die Serienwelt erfasst hat. «Ja, ich kann mich mit diesem düsteren, existentialistischen Kern der Skandinavier identifizieren», sagt Levi. Er kennt keine Distanz. Mira (Chastain) und Jonathan (Isaac) in «Scenes of a Marriage» sind Hagai Levi selbst, «total, in jeder Sekunde. Ich treffe sie in ihrer Verletzlichkeit, in ihrem Schmerz.»
Levi ist zweimal geschieden. «Ich weiss immer noch nicht, wie mir das passieren konnte, das bin dermassen nicht ich! Ich frage mich dauernd: Bin ich beziehungsfähig? Bin ich für die Monogamie gemacht? Heute reden die Leute dauernd über das Ende der Monogamie und über Polyamorie, aber die Wahrheit ist, dass einige Leute genau für die Monogamie gemacht sind und andere einfach nicht. Das ist eine sehr banale Erkenntnis, aber mir hat es geholfen, meine Enttäuschung und meine Versagensängste etwas in den Griff zu bekommen.» Serienmachen als Selbsttherapie in aller Öffentlichkeit also? Irgendwie schon, ja.
Das letzte Tageslicht hat Genf verlassen. Die letzte Zigarette auf der Kinoterrasse verglüht, Hagai Levi zieht sich jetzt an die Bar zurück mit einer Frau, die so schön ist, dass sich jede Frage erübrigt.
Am nächsten Tag im Hotel Four Seasons. Im ersten Stock stellt das Auktionshaus Christie's Juwelen aus. Im Foyer sitzt Bálint Szentgyörgyi, er ist 29 und damit genau 29 Jahre jünger als Hagai Levi. Bálint ist Ungar und das neue Wunderkind von HBO-Europe. Nächstes Jahr wird in Ungarn die erste Staffel seiner Serie «The Informant» gezeigt. Nach ein paar Kurzfilmen ist das seine erste grosse Arbeit und Genf sein erstes Filmfestival überhaupt, hier feiert seine Serie Weltpremiere.
HBO Europe hat Sitze in Budapest, Prag und Stockholm und kümmert sich dort um aufwändige Eigenproduktionen für den osteuropäischen oder skandinavischen Markt, von denen wir die meisten gar nie sehen, es sei denn, sie laufen auf Arte. Vielleicht wird dies ja auch mit «The Informant» der Fall sein, die Serie hätte es verdient.
«The Informant» spielt 1985, «zu einer Zeit, die natürlich visuell sehr attraktiv ist. Zu einer Zeit aber auch, als sich das bevorstehende Ende des Kommunismus langsam abzuzeichnen beginnt, als es fühlbar wird und die Leute ein Bewusstsein dafür entwickeln», sagt Bálint. Ein Junge vom Land kommt als Student nach Budapest und wird von der Staatssicherheit angeheuert. Er soll einen Studentenführer beschatten, sonst werden seinem kranken Bruder die Medikamente entzogen. An der Uni trifft er auf Punks, Schmuggler und ein schönes Mädchen, er hat keinerlei Talent zu klandestiner Arbeit, aber als Schachspieler einen Instinkt für schnelle Analysen von scheinbar ausweglosen Situationen. «The Informant» ist überraschend, bunt, energetisch, atemlos, jung eben.
Bálint strahlt derart viel Selbstbewusstsein aus und erzählt von so vielen Auslandaufenthalten in seiner Kindheit und Jugend, dass ich ihn nach ein paar Minuten frage, was denn eigentlich sein familiärer Hintergrund sei. «Wieso?» – «Weil mich das interessiert.» – «Mein Vater ist Diplomat, meine Mutter Ärztin.» – «Sie sind also sehr viel privilegierter als die Figuren in ihrer Serie.» – «Bin ich das?» – «Aber sicher!» – «Ja, doch, stimmt.»
Sein Herz gehört trotz aller Weltläufigkeit Ungarn. Da will er arbeiten und alt werden. Und er will auch nicht, wie so viele historische Serien und Filme, «den Kommunismus verdammen». Den harten historischen Wechsel von einem System ins andere, vom Kommunismus zum Kapitalismus, der auch nicht einfach gut ist, möchte er gern in einer zweiten Staffel von «The Informant» beleuchten. Jetzt geht es ihm darum, zu zeigen, dass Jugend in jedem System einen Weg findet, sich auszuleben und sich selbst zu feiern.
Seine Eltern waren es auch, die ihn mit Filmen versorgten. Denn schon als Kind war er süchtig danach, aber nicht etwa nach kindgerechten Cartoons, sondern nach Erwachsenenfilmen. «Sie gaben mir unschuldige Klassiker aus den 40er- und 50er-Jahren, ‹Der Graf von Monte Christo›, ‹Die drei Musketiere›, keine Gewalt, kein Sex. Zuerst wollte ich Schauspieler werden, dann merkte ich langsam, dass es mich zu Drehbuch und Regie zieht.»
Eine Filmschule machte er keine, er begann einfach mal, mit seinen besten Freunden einen Kurzfilm zu drehen, der gleichzeitig die erste Folge einer Serie sein könnte. Alles entstand sehr spontan und hastig, mit Leuten, die abgesehen vom Kameramann noch nie gedreht oder gespielt hatten, und dann beschloss Bálint, das Ergebnis an alle TV-Sender in Ungarn zu schicken. HBO Europe in Budapest war der erste.
Er rief an, der Portier nahm ab, Bálint sagte: «Ich hab da einen Film, den ich euch vorstellen möchte, können Sie mich mit einem Verantwortlichen verbinden?» Zwei Monate hatte er ein Meeting. In den zwei Monaten schrieb er das Drehbuch zu weiteren Folgen. «HBO sagte: ‹Wir mögen das! Aber was geschieht jetzt?› Ich öffnete meinen Rucksack und knallte die Drehbücher auf den Tisch. Ich sagte: ‹Ich hab eine Bedingung, ich will Regie führen.›» HBO sagte Ja. Gab viel Geld. Half bei der Entwicklung. Seine Freunde nahm er alle mit zu HBO. «Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber ich mag es, ihr Anführer zu sein.» Wieso auch nicht? Regie ist nichts anderes als Führungsarbeit. Vier Jahre später war «The Informant» geboren.
Es ist ein Märchen. Und so lebt es Bálint auch. «Viele Menschen verbringen ihr ganzes Leben in einem Zustand des ‹Davor› und warten auf das ‹Danach›: Sie hoffen auf diesen einen Tag, der alles verändert, an dem sie in der Lotterie gewinnen oder auf die grosse Liebe treffen, und endlich richtig glücklich werden. Doch die meisten erreichen dieses ‹Danach› ein Leben lang nicht. Ich lebe in diesem Danach und es ist magisch. Es ist das beste aller Leben. Und es begann genau in jenem Moment, als ich HBO anrief und sich alles veränderte.»
«Scenes from a Marriage», «In Treatment» und «The Affair» sind bei uns bei Sky Show zu sehen.
Das 27. GIFF in Genf (früher hiess es Féstival tous écrans) läuft noch bis zum 14. November.
