Wie verrückt war das denn! Stefan Raab, der damals noch sein «TV total» hatte, bastelte sich eine Castingshow mit dem surrealen Titel «Stefan sucht den Superstar, der singen soll, was er möchte, und gerne auch bei RTL auftreten darf!». Es war eine Reaktion auf das Auftrittsverbot, das RTL einem Kandidaten, der DSDS von sich aus verlassen hatte, auferlegt hatte. Und plötzlich stand da diese 18-Jährige aus dem Wallis, die losrockte und Runde für Runde alle andern wegblies. Ungläubig sass die Nation vor dem Fernseher.
Sie kam, siegte und blieb seither ganz oben in der Gunst der Fans, der Radio- und TV-Sender, gewann dies- und jenseits der Grenze haufenweise Preise, jobbte als Jurymitglied und Coach in vielen weiteren Castingformaten. Dass sie 2020 an der unrettbar volldepperten und höchstens mit geschlossenen Augen überhaupt auch nur eine halbe Minute lang erträglichen Horroshow «The Masked Singer» teilnahm und schon in der ersten Runde in einem Dalmatinerkostüm ausschied, sei ihr verziehen. Abgesehen davon: alles astrein authentisch.
«Popstars» ist mit Geburtsjahr 2000 die älteste deutsche Musikcastingshow. «DSDS» kam erst zwei Jahre später, «X Factor» wurde 2010 lanciert und «The Voice» gibts seit 2011. «Popstars» brachte die irre erfolgreichen No Angels, die erfolgreichen Bro'Sis und die ziemlich erfolgreichen Monrose und Queensberry hervor. Und ein paar weitere. Von denen das Duo Some & Any wahrscheinlich die erfolgloseste war und sich auch nach nur sechs Monaten wieder trennte. Obwohl sie noch im Vorprogramm von Kelly Clarkson hatte auftreten dürfen.
Trotzdem: Es war einmal. Und der damals 20-jährige Leonardo Ritzmann, der früh erste Bühnenerfahrungen im Kinderchor gesammelt hatte, stand mit der 18-jährigen Vanessa Meisinger ein wenig im Rampenlicht. Schon als die Band noch existierte, arbeitete er wieder als Verkäufer in einer Modeboutique. Später sang er solo, outete sich als bisexuell, versuchte unter dem Namen Leo Matos den brasilianischen Markt zu erobern und unternahm erste Schritte als Schauspieler.
Edita Abdieski aus Bümpliz gewann gleich die erste Staffel von «X Factor». Sie war 25, sie hatte ihre erste Band mit elf Jahren gegründet und sie hatte ein souveräne Soul-Stimme, mit der sie alles von Aretha Franklin über Gossip, Pink, Rihanna und Beyoncé mühelos stemmte. Das war gross. Coach Til Brönner sagte: «Ich mach’s kurz: Deine und meine Arbeit ist jetzt getan. Ich kann mich nur bei dir bedanken.»
Alle glaubten, dass Editas Weg bis zum Superstartum ein kurzer sei. Irgendwie kam es aber nie dazu. 2017 gab sie ein Comeback, nachdem sie wegen einer Hirnblutung hatte pausieren müssen, aber auch das wurde kein Erfolg. 2018 brachte die seit vielen Jahren in Köln lebende und arbeitende Sängerin einen Sohn zur Welt.
«Mit jeden Autogramm lebt ihr Ruhm ein wenig länger», spottete 2012 (siehe Video) ein Reporter, als er vier DSDS-Teilnehmer, darunter den aktuellen Gewinner Luca Hänni, 16, zu einem Auf(t)ritt unter Fans begleitete. Kein Mensch traute dem herzigen Berner Giel, der 35'000 Bewerberinnen und Bewerber ausgestochen hatte, eine langlebige Karriere zu.
Doch die Welt irrte sich. Gemeinsam mit seiner Nachfolgerin dürfte Luca Hänni der erfolgreichste DSDS-Sieger sein. Der, den immer noch alle kennen. Das glaubt ihr nicht? Dann versucht doch mal, die andern lückenlos aufzuzählen. Na? Wen ausser Mark Medlock und Herrn Lombardi habt ihr behalten? Und als wäre das trotz der schwer vorbelasteten Schweizer ESC-Geschichte nicht schwerer als Zähneputzen, wurde er 2019, im reifen Alter von 24 Jahren, mit «She Got Me» Vierter im Kampf um den Titel als jahrebester europäischer, ähm, Qualitäts-Interpret.
Dass er sogenanntes «Rateteammitglied» bei der abominablen TV-Groteske «The Masked Singer Switzerland» mitmacht, die kleinen Kindern Alpträume und Erwachsenen Peinlichkeits-Traumata verabreicht (so, so sorry, Steffi Buchli, ich mag dich verrückt gerne, aber diese Sendung NICHT!), müssen wir ihm wohl irgendwie nachsehen.
Nur ein Jahr nach Luca Hänni gewinnt Beatrice «die Sonne» Egli aus Lachen mit sensationellen 70,25 Prozent aller Publikumsstimmen DSDS. Und rettet als Schweizerin den volkstümlichen deutschen Schlager. Man muss sich das vorstellen: Erst ein halbes Jahr nach Eglis Sieg kommt Helene Fischers Überschall-Knaller «Atemlos durch die Nacht» in die Charts. Und fast möchte man sich fragen: War es Eglis Attacke auf die emotionalen Herzkranzgefässe von Millionen, die Helene Fischer den Weg zum Megaerfolg ebnete?
Bereits vor DSDS hatte Beatrice Egli die Studioalben «Sag mir wo wohnen die Engel», «Wenn der Himmel es so will» und «Feuer und Flamme» aufgenommen. Es folgten sieben weitere Alben, darunter «Glücksgefühle», «Pure Lebensfreude» und «Wohlfühlgarantie». Fünf davon belegten in der Schweiz Platz 1 in den Charts. Positiv anzurechnen ist ihr, dass sie noch nie an «The Masked Singer», weder in Switzerland noch Germany, teilgenommen hat.
Heute ist Michèle Bircher 19 und lässt sich zur Coiffeuse ausbilden und arbeitet im Studio an eigenen Songs. Als sie 2013 «The Voice Kids» gewann und in Deutschland auf der Strasse erkannt wurde, da war sie 12 und sagte, wenn es mit der Gesangskarriere nicht klappe, wolle sie Psychologin werden. Damals trat die Schülerin aus Lampenberg, BL, mit den Söhnen Mannheims im Europapark auf und in der Staatsoper Leipzig und fand Claudia Effenberg unter allen deutschen Promis die netteste.
2017 wollte sie mit «Two Faces» (über die allgemeine Launenhaftigkeit des Menschen an sich) die Schweiz am ESC vertreten. Gewonnen hat das Casting die Band Timebelle, die wie erwartet nicht über die Halbfinalrunde hinauskam.
«Ich hatte schon relativ lange sone tiefe Stimme», sagte Paula Dalla Corte nach ihrem ersten Auftritt, «aber habe jetzt auch noch zusätzlich angefangen zu rauchen.» Die 19-Jährige aus dem thurgauischen Tägerwilen war bodenständig, skeptisch, ja sogar misstrauisch, was die Zuneigungs-Bekundungen von Coaches und Fans (wie David Guetta) betraf. Dabei war vom ersten Ton weg klar, dass es sich bei ihr um ein Ausnahmetalent handelt.
Jetzt will die Schülerin, die am 20. Dezember mit sagenhaften 44 Prozent der Publikumsstimmen die zehnte Staffel von «The Voice of Germany» gewann, erst die Kanti beenden, das habe Priorität, sagt sie. Danach will sie «Songs raushauen».
Ein von ihr rausgehauener Song, die von ihr mitgeschriebene Finalnummer «Someone Better», sprang noch in der Finalnacht auf Platz eins der iTunes-Charts. Gesangsstunden hat sie übrigens noch nie im Leben genommen, Bühnenerfahrung hatte sie vor «The Voice» so gut wie keine und normalerweise singt sie auch nur unter der Dusche. Chapeau. Endlos.
Offenbar ist sie auch geerdet, sie macht die Schule fertig und stürzt sich nicht gleich ins Haifischbecken.
Auf nach Mostindien!