Worauf freut sie sich gerade am meisten? «Darauf, mit grossen Gummibooten zwischen dem im Meer treibenden Eis rumzufahren und wenn irgendwie möglich mit den Gästen auf einer Scholle auszusteigen. Und auf dieses Geräusch, wenn alles sonst still ist und sich winzige Luftbläschen aus dem Eis lösen.»
Sandra Walser, 42, weiss alles über das Eis, das Weiss, das Wasser und die verwirrende Winzigkeit des Menschen. Über Pinguine, Eisbären, Wale und die Schiffe, mit denen man die Arktis im Norden und die Antarktis im Süden bereisen kann. Über die gleissenden Landschaften, die für uns zwar lebensfeindlich sind, aber nicht mehr zwangsläufig lebensbedrohlich. Nicht so wie früher, als ganze Expeditionen erfroren oder wie der berühmte Brite Ernest Shackleton jahrelang schiffbrüchig auf einer Eisscholle trieben.
Gut sechzig Mal war Walser in den letzten zehn Jahren bereits in den Polargebieten als Guide tätig, gerade packt sie wieder, nach einem 32-stündigen «Arbeitsweg» geht’s von Südchile aus noch weiter in den Süden. Zwei Monate lang ist sie unterwegs, auf einem Schiff mit rund siebzig Passagieren, regelmässig wird sie seekrank, sie hat sich damit abgefunden, schlimmer als die Übelkeit auf See ist die Reizüberflutung, wenn sie wieder nach Hause kommt, «dann bin ich zwei Wochen lang komplett überfordert, alles ist zu viel, zu laut, zu hektisch, ich schaffe es körperlich nicht, mich länger als zwei Stunden in der Stadt zu bewegen».
Die Schiffe, auf denen sie arbeitet, sind einfachere Varianten von Kreuzfahrtschiffen, ohne Swimmingpool, Casino oder Abendunterhaltung, dafür mit zahlreichen Landgängen. Diese unterliegen relativ strengen Regeln.
«Man darf nichts liegen lassen oder mitnehmen, nicht aufs WC, keine Tiere berühren, nicht auf Pflanzen treten – so eine Polarpflanze braucht schliesslich mehrere Jahre, um nur ein paar Zentimeter zu waschen –, nichts essen, nur Wasser trinken. Man hält sich an Wege, sofern vorhanden, und gewisse Gebiete sind für Besuchende komplett gesperrt. Am besten setzt man sich einfach irgendwo hin, beobachtet, wartet, bis sich die Tiere nähern.» Die Pinguine zum Beispiel. Die vor Menschen keine Angst haben, weil sie sich zu Land keine Bedrohung gewöhnt sind, nur im Wasser oder aus der Luft.
Der Polartourismus boomt, oft sind in derselben Region mehrere Schiffe gleichzeitig unterwegs, man versucht, sich nicht zu begegnen und spricht die Landgänge miteinander ab, um die Belastung für die Natur zu minimieren und gleichzeitig das Gefühl der Weltabgeschiedenheit, nach dem alle suchen, intakt zu halten.
«Die Thematik», sagt Walser, «ist komplex und beschäftigt mich sehr – persönlich und als Tourismus-Akteurin. Natürlich versuche ich, die entsprechenden Fragen mit meinen Reisegesellschaften zu diskutieren und ihnen ein Bewusstsein mitzugeben. Ich zeige ihnen Bilder, von vor 120 Jahren aber auch von vor 10 Jahren, die Unterschiede zu heute sind erschreckend, die Gletscher schmelzen kilometerweise.»
Auf Spitzbergen geht sie mit den Passagieren Plastik sammeln an den Stränden: «Wir entziffern die Aufschriften, um herauszufinden, woher die Teile stammen, denn verschiedene Meeresströmungen bringen sie von weit her. Es ist frustrierend, wir reinigen Strände, die andern Schiffe tun das auch, und wenn wir zehn Tage später wieder vorbeifahren, sind sie wieder vermüllt. Dies zu erleben, macht etwas mit einem.»
Als Zehnjährige begann sie zu fotografieren, viel später, als sie ihre Liz-Arbeit in Geschichte schrieb und damit nicht glücklich werden wollte, versprach sie sich selbst zur Belohnung eine Reise in die Landschaften ihrer Sehnsucht. Nach Island und Grönland.
Und dann kam die Idee mit den Schiffen: «Ich hatte keinerlei Gebietskenntnis, ich hatte noch nie auf einem Schiff gearbeitet. Eine Reise zu dokumentieren, war mein einziges Kapital. Ich heuerte also als Fotografin an, heute arbeite ich für verschiedene Reedereien im Leitungsteam, das auf den Schiffen von A-Z für die Ausführung der Reisen verantwortlich ist.»
Pro Jahr ist sie drei bis vier Monate unterwegs, zuhause in der Schweiz arbeitet sie im Kulturmanagement. Und jetzt hat sie ein Buch geschrieben. Im Zentrum steht ihr Seelenverwandter, auf den sie durch Zufall gestossen ist, kein Fotograf, aber ein Schweizer Maler, Hans Beat Wieland (1867–1945) aus Basel, zu Lebzeiten ein bekannter Künstler mit respektabler Karriere in Deutschland. Auch er liebt die Berge und will noch viel mehr Eis sehen, 1896 nimmt er 29-jährig als Illustrator für eine Zeitung auf einer Touristenreise in die Arktis teil – es ist eine der ersten dieser Art.
Veranstalter ist der Deutsche Wilhelm Bade, der 1869/70 für zweihundert Tage anlässlich einer gescheiterten Nordpolarexpedition auf einer Eisscholle Zuflucht fand. Ein Schicksal, das ihn zu einem berühmten Vortragsreisenden machte. Jetzt fährt er 52 Passagiere aus 9 Ländern nach Spitzbergen.
Eine (weitherum stinkende) Walfangstation wird besichtigt – «Wer den Wal hat, hat die Qual», kommentiert Wieland in seinem Tagebuch. Man jagt sinnlos und total berauscht viel zu viele Robben, Polarfüchse und Rentiere, begegnet den prominentesten Polarforschern jener Zeit. Zum Finale gibt’s auch noch eine Sonnenfinsternis, und ein echter König kommt an Bord. Er sei «ein mordsgrosser Mann» und habe «unmässig lange Fingernägel wie ein chinesischer Bonze», beobachtet Wieland. Nur Eisbären werden keine gesichtet.
Doch zuerst fährt das Schiff, die Erling Jarl, der norwegischen Küste entlang. Wieland ist begeistert: «Einsam, furchtbar einsam und ernst – meine eigentliche Lieblingslandschaft. Sie hat viel Ähnlichkeit mit dem Gotthard», notiert er.
Sandra Walser las in einem Artikel von 1940, dass Wieland an Bord ein Tagebuch geführt habe, sie stöberte eine Enkelin auf, konsultierte unzählige Archive, folgte jedem noch so kleinen Hinweis – «es war echte Sherlock-Holmes-Arbeit». Und sie hatte Erfolg: Eines Tages lag das Tagebuch vor ihr, ausgerechnet in Winterthur, ganz in der Nähe also. Sie fand darin Texte, Fotos, Skizzen. Ab da war Wieland nicht der Anfang, aber der Anker ihrer Arbeit über die Anfänge des Polartourismus. Die Historikerin, die bis dahin aus Eigeninteresse und für Vorträge für ihre Polarpassagiere recherchiert hatte, beschloss, aus ihrem Material ein Buch zu machen.
Jetzt ist es also da. Abenteuerlich, packend, unterhaltsam. Mit spektakulären Bildern, etwa den letzten Fotos, die der schwedische Forscher Salomon A. Andrée und seine beiden Kollegen nach der Notlandung ihres Gasballons machten. Die drei wollten im Ballon den Nordpol erreichen, doch nach einer 65-stündigen Irrfahrt und einem anschliessenden 83-tägigen Marsch durch die Eiswüste versagten ihre Kräfte.
Es ist ein Buch, das sich aus vielen solcher Trouvaillen zusammensetzt, aus alten Bildern und alten Texten über verrückte Menschen, ihren Entdeckerdrang und ihre unglaublichen Geräte. Technik, Tollkühnheit und Tod. Zusammengehalten durch die Ironie, gelegentlich auch die pure Überwältigung eines Schweizer Beobachters namens Wieland. Der sich mit der Frau, die sein Tagebuch und so viel anderes in einem Buch geborgen hat, die eine grosse Sehnsucht teilt. Die, das bunte, kleinteilige Gewimmel der Welt für eine Weile hinter sich zu lassen. Und es einzutauschen gegen die Erfahrung einer gleissenden, eisigen Erhabenheit.
Das Buch «Auf Nordlandfahrt» von Sandra Walser mit enorm vielen Abbildungen eignet sich hervorragend als Weihnachtsgeschenk. NZZ Libro Verlag, 39 Fr. In eurer Buchhandlung oder beim Online-Händler eures Vertrauens.
Mehr Fotos und Texte unter sandrawalser.ch
Muselbert Qrate
müüüsli
Mit einer riesigen Dieseldreckschleuder durch Gebiete fahren die genau dadurch leiden und langsam zerstört werden ? Nein, Danke.
rundumeli