Ein Kind verpasst den Schulbus. Extra. Es will nämlich von seinem Vater zur Schule gefahren werden. Denn der Vater besitzt einen Porsche, und das Kind liiiiebt den Porsche. Auf dem Beifahrersitz macht es typische Beifahrerposen: Fenster auf, Hand raus, Haare im Wind flattern lassen.
Das Kind ist neun, die Porsche-Werbung sein erster Auftritt vor der Kamera, es ist frech, angstfrei und sehr, sehr herzig. Es heisst Kristen Stewart. Zwei Jahre später dreht Kristen schon an der Seite von Jodie Foster. Spielt deren Tochter im auch heute noch Nerven zersetzenden Thriller «Panic Room». David Fincher führt Regie. Was für ein Einstieg.
Danach ist sie ein Teen-Star und will unbedingt beim Film bleiben. Nicht zwingend als Schauspielerin, «hinter der Kamera» ist auch vorstellbar, ihre Eltern arbeiten dort, der Vater ist Aufnahmeleiter beim Fernsehen, die Mutter berät Drehbuchautoren. Sie wächst in Los Angeles mit drei Brüdern auf, ihr zweiter Vornamen ist ein Männernamen: Jaymes.
Heute ist sie zum Glück an einem ganz andern Ort. Fährt ihren eigenen schwarzen Porsche Cayenne. Besitzt mit erst 29 Jahren schon respektable 70 Millionen Dollar. Ist unbeschadet aus einer der grössten Teenie-Franchisen Hollywoods hervorgegangen, aus dem «Twilight»-Fünfteiler, in dem sie zur Braut eines schönen, weit über hundert Jahre alten Vampirs wurde.
Sie hat auch die Real-Life-Liebe zu Vampir-Darsteller Robert Pattinson ohne sichtbare Verletzungen überlebt. Obwohl die beiden neben Angelina Jolie und Brad Pitt das von Paparazzi meistgehetzte Promipaar ihrer Zeit waren.
Gut 50 Filme hat sie bis heute schon gemacht, Märchen-Action wie «Snow White and the Huntsman», Coming-of-Age-Komödien wie «Adventureland» und «American Ultra». Demnächst kommt das Remake des Films zur komischen Agentinnen-Serie «Charlie's Angels».
Ihre Hobbys sind jetzt: Fotografie, Regie und Lyrik. Okay, ihre Gedichte sind miserabel, immer geht es darin um sentimental explodierende Körper und abgenagte Knochen. Hier ein Müsterchen. Übersetzt von deepl.com, wir mussten leider die Waffen strecken. Zu avantgardistisch.
My Heart Is A Wiffle Ball/Freedom Pole
I reared digital moonlight
You read its clock, scrawled neon across that black Kismetly … ubiquitously crest fallen
Thrown down to strafe your foothills …
I’ll suck the bones pretty.
Mein Herz ist ein Noppenball/ Freiheitsstab
Ich habe digitales Mondlicht aufgezogen.
Du liest seine Uhr, in Neon über diesen schwarzen Kismetly gekritzelt ...
allgegenwärtig gefallener Kamm,
heruntergeworfen, um deine Ausläufer zu strafen ...
Ich werde die Knochen schön lutschen.
Ihr Lieblingsbuch: Der amerikanische Klassiker «East of Eden» von John Steinbeck. Ihr Vorbild: Die amerikanische Rock-Ikone Patti Smith. So sehr identifiziert sich Kristen Stewart während der Lektüre von Smiths Memoirenband «Just Kids» mit der Rockerin und ihrem Gefährten, dem Künstler Robert Mapplethorpe, dass sie zu malen beginnt. Und so gerührt ist darob wiederum Patti Smith, dass sie sich gern einmal von Kristen Stewart gespielt sähe.
2016 hat Kristen Stewart in ihrer Garage ein so unfassbar intensives Meisterwerk gemalt, dass gar nicht anders konnte, als daraus einen Kurzfilm zu machen. Er heisst «Come Swim» und lief in Sundance, den Soundtrack komponierte Stewarts damalige Liebhaberin, die britische Musikerin St. Vincent. Der Plot: Ein Mann mit Herzproblemen taucht, was ganz sicher keine gute Idee ist.
So angefixt war Stewart wiederum davon, hinter der Kamera zu stehen, dass sie jetzt gerade die Drehbuchfassung des Bestsellers «The Chronology of Water» von Lidia Yuknavitch (eine gute Freundin von Chuck Palahniuk, dem Autor von «Fight Club») schreibt. Und daraus ihre erste Spielfilmregie machen wird. Schon wieder was mit Wasser. Dabei hasst Kristen Stewart Schwimmen, besonders im Meer.
Wie auch, wenn man ein Wunderkind ist? Auch Juliette Binoche, mit der sie im Engadin «Clouds of Sils Maria» drehte, attestiert Kristen Stewart sowas wie die schnellste Auffassungsgabe der Schauspielgeschichte: Einmal den Text überfliegen und fertig.
«Ich bin süchtig nach dem ersten Mal», sagt Stewart dazu, sie wolle nicht klingen, als habe sie etwas auswendig gelernt, es solle wirken, als würde sie nach den Worten suchen und sie zum ersten Mal finden, «alles Weitere fühlt sich an wie eine billige Imitation.»
Süchtig nach dem ersten Mal. So muss es sich anfühlen, wenn man auf der vielzitierten Überholspur ist. Auf einer Autobahn, an deren Ausfahrten grosse Namen warten. Allein 2016, als Kristen Stewart so gut gebucht war wie noch nie zuvor, waren das: die Indie-Queen Kelly Reichardt («Certain Women», sehr gut), Woody Allen («Café Society», ein Totalquatsch), Olivier Assayas («Personal Shopper», sensationell gut) und Ang Lee («Billy Lynn’s Long Halftime Walk», halb gescheitert).
Und als sich das Jahr schon zur Ende neigte, kamen auch noch die alten Säcke von den Rolling Stones und fanden, dass Kristen Stewart die Einzige weit und breit sei, die in ihrem neuen Videoclip in einem blauen Mustang durch ein postapokalyptisches Los Angeles brettern dürfe.
Der Clip ist sowas wie die Porsche-Werbung von 1999 reloaded. Kristen Stewart, eine Frau, wie fürs Auto geboren. Fürs schnelle Fahren in ausnehmend schönen Maschinen. Sie fährt auch in ihren Filmen viel Auto. In «Twilight», «On the Road», «Into the Wild», «American Ultra», «Certain Women» und und und. Und raucht fast noch mehr. Das Autofahren ist amerikanisch. Verbindet den Indie-Film mit seinen Elegien auf einsamen Landstrassen mit Blockbustern wie «Fast and Furious». Das Rauchen ist dann doch eher europäisches Autorenkino.
Kristen Stewart verkörpert beide Träume. Und zwei amerikanische noch dazu: Den vom Aufstieg in schier extraterrestrische Höhen und den vom ganz normalen Mädchen in Tanktops, Jeans und Converse.
Der globale Erfolg von «Twilight» hat sie hochgeschossen, in die Liga der Bestverdienenden und auf die Chanel-Plakate, dabei gab sie sich auch da genau so wie immer: Als edgy, clumsy Jeansmädchen mit spitzen Knien und Ellenbogen, das böse schaut und hässig klingt. Das Suchende, Unsichere, um Ausdruck Ringende ihrer Generation, das verkörpert sie bis weit jenseits der Schmerzgrenze.
Ein Draht, der sie manchmal zu versengen droht. Am schmerzhaftesten vielleicht als tragische Teenie-Nutte in «Welcome to the Riley’s». Und als metaphysisch gestresste Geisterjägerin in «Personal Shopper». Oder auch mal gar nicht gross reflektiert, sondern einfach sehr genre-gerecht im wundervollen Horror-Streifen «The Messengers». Dessen Horror-Haus wiederum sehr schön mit dem aus «Personal Shopper» korrespondiert. Und natürlich mit der New Yorker Villa aus «Panic Room».
Es ziehen sich mehrere rote Fäden durch die Filme von Kristen Stewart, und am Ende sitzt man vor einem dichten Gewebe, das eine zusammenhängende Geschichte erzählt. Die Geschichte vieler typisch amerikanischer Geschichten mit einer spröden, verletzlichen und herbschönen Heldin. Vorwiegend sind das Geschichten von Provinz, Paranoia, Paranormalität. Von Konfrontationen mit zutiefst neurotischen Männern, seien das Vampire, anderweitig Tote, Kriegsveteranen, unglückliche Väter, Jungdichter oder Aussteiger.
Die Essenz jedes Schauspielerinnenlebens sei doch ganz einfach, sagte Kristen Stewart einmal in einem Gespräch mit Patti Smith. Es finde sich zusammengefasst im berühmtesten Satz des amerikanischen Dichters Walt Whitman: «I contain multitudes», ich bin Viele. Ja genau. Und am Ende doch ganz genau eins: Kristen Stewart, eine amerikanische Frau.
Bei diesem Text handelt es sich um eine aktualisierte, gekürzte, erweiterte Fassung eines Textes von Simone Meier, der 2017 für die Kristen-Stewart-Retrospektive des Zürcher Kinos Xenix entstanden ist. Sonst wären wir nicht so schnell gewesen damit.